Allerseelen

Morgenandacht
Allerseelen
02.11.2015 - 06:35
18.06.2015
Cornelia Coenen-Marx

Wenn die letzte Ernte eingefahren ist und auch die bunten Blätter schon blass am Boden liegen, wenn die Sonne tief steht und die Nebel aufsteigen, ist der schöne (Teil vom) Herbst wohl endgültig vorüber. Kaum jemand mag den November. Wenn die Bäume wie schwarze Scherenschnitte im Nebel erscheinen und die Feiertage samt und sonders mit Tod und Trauer zu tun haben. Es fühlt sich an, als sei der dunkelste aller Monate gekommen – noch ganz ohne Lichter in den Straßen. Kaum vorstellbar, dass die Kelten jetzt Neujahr feierten. Das Halloween-Fest ist davon übrig geblieben. Mit Kürbislichtern und Gespenstern. In dieser Zeit soll die Grenze zwischen Himmel und Erde besonders dünn sein. Und auch die zwischen Leben und Tod. Das macht verletzlich, ja, es macht Angst. Die Geister und Gespenster sollen vor dem Bösen schützen.

 

Aber auch zwei kirchliche Feste werden in diesen Tagen gefeiert – gestern war Allerheiligen, heute ist Allerseelen. Das Doppelfest ist vermutlich im 10. Jahrhundert an die Stelle des alten keltischen Totenfestes getreten. Seit meiner Kindheit im Rheinland liebe ich es, wenn jetzt in der Abenddämmerung kleine Lichter auf den Friedhöfen brennen. Rote Lämpchen mit flackernden Kerzen auf den Gräbern, den katholischen jedenfalls – (als) Zeichen der Liebe und auch der Hoffnung auf ewiges Leben. Dann scheint der graue und herbstliche Friedhof plötzlich ganz lebendig. Im Vergleich kam es mir immer trist vor bei uns Evangelischen. Totensonntag mit Kränzen, aber ohne Kerzen. Gräber unter Tannengrün. Schön, dass sich allmählich die Kulturen mischen; auch bei uns tauchen Lichter zwischen den Gestecken auf. Nur dieses rote Flammenmeer, das ich als Kind über den Gräbern leuchten sah, das gibt es kaum noch. Längst wohnen die meisten Familien nicht mehr am gleichen Ort. Es ist keiner da, der die Kerzen am Abend anzündet.

 

Aber überall auf der Welt beten heute Katholiken für die Seelen ihrer Verstorbenen. Ich gebe zu: ich habe Schwierigkeiten mit der Idee, dass wir unsere Toten aus dem Fegefeuer „herausbeten“ sollen – das ist übrigens der Grund dafür, dass die evangelische Kirche das Fest nicht begeht – aber ich glaube doch, dass unsere Lieben bei Gott lebendig sind. Die Schriftstellerin und Filmemacherin Doris Dörrie erzählt in ihrem Buch „Das blaue Kleid“ von einer jungen Witwe, die den Tod ihres Mannes betrauert. Erst auf einer Reise nach Mexiko wacht sie aus der Starre auf. Da erlebt sie, wie fröhlich man die Toten in diesen Tagen feiern kann – mit Skelettprozessionen und Picknick an den geschmückten Gräbern und mit Geschenken für die Toten. In dieser Nacht lässt man dort Türen und Fenster auf, damit die Seelen der Toten sich frei bewegen können. Ohne Mauern, ohne Grenze zwischen Himmel und Erde.

 

Es ist, als würde der Deckel einmal aufgemacht, mit dem sonst unter Verschluss halten, was wir doch wissen: dass die Wand zwischen Leben und Tod nicht so dick ist, wie wir glauben. Dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind, auch wenn wir das normalerweise verdrängen. Ich erinnere mich an einen Gottesdienst in Wologda, im Norden Russlands. Mitten in der Kirche war ein Verstorbener aufgebahrt. Der offene Sarg stand zwischen den Gemeindegliedern, als die Eucharistie ausgeteilt wurde – die Trauernden in schwarzer Kleidung um den Sarg, alte Frauen mit Kopftuch, kleine Kinder auf dem Arm ihrer Mütter, und über allem die Heiligen auf der Ikonostase. Im Kerzenschein wirkten sie ganz lebendig – und während die Gemeinde wieder und wieder das Kyrie sang, hatte ich das Gefühl, in einer großen Gemeinde mit den Lebenden und Toten zusammen zu feiern.

 

Gerade jetzt in den dunklen Wochen, wenn unsere Seele vielleicht verletzlicher ist als sonst, tut es gut, einen Blick über die Gräber zu werfen. Und über sie hinaus: Auf das große Lichtermeer all der Heiligen und von Gott Geliebten, die auch zu unserem Leben gehören. Heute ist Allerseelen. Für viele sicher ein ganz normaler Tag. Ich nutze ihn, um an den Erinnerungsfotos meiner Lieben eine Kerze aufzustellen.

18.06.2015
Cornelia Coenen-Marx