Bedrohte Worte

Morgenandacht
Bedrohte Worte
01.11.2016 - 06:35
31.10.2016
Pfarrer Jan von Lingen

Ich liebe Worte, besonders die bedrohten, alten, die in Vergessenheit geratenen. Bedrohte Wörter gibt es viele. Zu Hause an unserem Kühlschrank kleben sie als Magnetstreifen. Zu lesen sind bedrohte Worte wie Ratzefummel, Labsal, Nasenfahrrad, blümerant, Kleinod, Gänsewein und Dreikäsehoch. – Eine Erinnerung an schöne alte Worte, die sozusagen „vom Aussterben“ bedroht sind, die wir kaum noch kennen, weil wir sie nicht mehr sagen. Dabei stellen sich so schöne Bilder ein, wenn ich diese Worte lese oder höre. Das Nasenfahrrad? Na, die Brille, klar, vor allem als sie noch keine Bügel hatte. Oder „Dreikäsehoch“? Keine drei Käse übereinander, sondern ein „Knirps“ – jedenfalls wenn dieses Wort nicht auch schon ausgestorben ist.

 

Viele schöne alte Worte haben wir zu Grabe getragen. Da ruhen sie also in Frieden. Aber dann vermisse ich doch solche Worte wie Lustwandeln, Pennäler, Hagestolz und Leibesertüchtigung – oder auch das schöne Wort „Huld“. Worte, die einem so richtig auf der Zunge zergehen, während andere Worte wie Zungenbrecher sind: Pfeffersack, Eselsbank oder Tingel-Tangel. Über manch schöne Worte könnte man „frohlocken“ – aber das sagt man ja nun auch nicht mehr.

 

Bedrohte Worte. Folgt man den Spuren der bedrohten Wörter, dann stößt man früher oder später auf „bedrohte Wörter aus der Bibel“. Manche sind in Vergessenheit geraten – zum Beispiel das kleine Wort „gen“: „Nach etlichen Tagen zog Jesus „gen“ Kapernaum“, so hieß es noch in alten Lutherbibeln. Klingt doch viel bedeutsamer als das schlichte „nach“, wie es da heute in der Bibel steht.

 

Martin Luther hat die deutsche Sprache entscheidend geprägt, als er die Bibel übersetzte. Was für Bildworte hat er geschaffen! Er sprach vom „Stein des Anstoßes“ und dass „niemand sein Licht unter den Scheffel“ stelle. So hat Martin Luther auch den Satz übersetzt, der im Zentrum seines Glaubens stand: „Aus Gnade seid ihr selig geworden“ – Gnade. An einem Samstag bei einer Predigtvorbereitung habe ich mich mit diesem Wort abgemüht. Dabei müsste ich es doch wissen! Als studierter Theologe mit jahrelanger Berufserfahrung. Aber nein: Gnade! Da saß ich und dachte: „Gnade“ ist auch so ein bedrohtes Wort aus alter Zeit. Leuchtet es noch ein? Erreicht es uns noch?

 

Mein erster Gedanke: Gnade klingt fremd in unserer Zeit, die den Erfolgreichen in den Mittelpunkt stellt. Bei uns heißt es doch: Du musst etwas sein, damit Du etwas bist. In der Schule kommt es auf die guten Noten an. Im Beruf musst Du top sein. Im Sport ein Ass. Und wenn Du nun Fehler gemacht hast? Alt geworden bist oder krank? Wenn Du im Leben Schuld auf dich geladen hast? Was dann? Was bedeutet in diesem Zusammenhang Gnade?

 

Wer dieses alte Wort Gnade erklären will und im Internet nachschaut, findet die Deutung: „Gunst“ oder „Wohlwollen“. Mir hat das nicht gereicht. Darum schrieb ich an eine ältere Dame, gebildet, kritisch, 91 Jahre alt und lebenserfahren.

 

Was verstehen Sie unter Gnade?, tippte ich in die Tastatur und schickte ihr die Mail. Sie antwortet umgehend, ‚Blitzgedanken zu Gnade‘ stand im Betreff. Sie schrieb: „Mit dem Wort „Gnade“ tue ich mich etwas schwer! Klingt „gnädig“ heute nicht etwas von oben herab? Verhielt sich Jesus gnädig wie ein gnädiger Richter gegenüber Zachäus – oder war Jesus nicht einfach nur hellhörig und zugewandt? Spannend, dem Gedanken der „Gnade“ mal nachzugehen! Ich mag die Aussage: Lass Dir an meiner Gnade genügen!“

 

Blitzgedanken einer älteren Dame zu Gnade, per Mail geschrieben… Manche alte Worte brauchen tatsächlich eine Übersetzung und dann leuchten sie wieder ein. Gnade bedeutet eben nicht, dass Gott uns von oben herab behandelt wie ein Monarch, der Gnade vor Recht ergehen lässt, oder wie ein Richter, der ein Gnadengesuch anhört. Nein, Gott beugt sich nicht herab – Gott wendet sich uns zu so wie Jesus sich den Menschen seiner Zeit zuwandte.

 

„Gnade“ bedeutet: Gott ist „hellhörig“ – denn er hört uns zu und macht das Dunkle in uns hell. Was für ein schöner Gedanke.

31.10.2016
Pfarrer Jan von Lingen