Der Hahn

Morgenandacht
Der Hahn
31.10.2016 - 06:35
31.10.2016
Pfarrer Jan von Lingen

Es wird erzählt von einem Hahn, der morgen für morgen eifrig krähte. Wenn er seine Brust rausstreckte und ein markerschütterndes Kickeriekie herausbrachte, ging kurz darauf die Sonne auf!  Gern geschehen, ihr Lieben, krähte er dann. Er allein nämlich rief die Sonne herbei, jenen herrlichen Feuerball, den der ganze Hühnerhof so innig liebte.

 

So kräht nicht nur der Hahn auf dem Mist. Der Mensch ist da nicht viel anders. Was wäre ein Tag ohne mein Zutun, meine Sorgen, mein Handeln!  Martin Luther ging es als jungem Mönch ähnlich. Er studierte Theologie, reiste nach Rom, wurde ein Gelehrter, ein Doktor der Theologie und gar Professor an der Universität in Wittenberg. Der Mensch im Zentrum des Kosmos - es hätte doch alles gut sein können...

 

Doch zunächst zurück zum Hahn auf den Hühnerhof: Eines Tages war der Morgen trübe, weil die Sonne hinter dicken Wolken verborgen blieb. Was hatte der Hahn gekräht, bis endlich ein einziger Sonnenstrahl hervorbrach - danach brachte er keinen Mucks mehr heraus. Er war heiser. Stimmlos zog er sich auf die hinterste Stange seines Hühnerstalls zurück. Oje, morgen! Was würde werden! Wenn er nicht krähte, würde morgen die Sonne nicht aufgehen; ja, kein neuer Tag würde beginnen! Ängstlich durchwachte der Hahn die Nacht...

 

Martin Luther kannte solch ängstliches Wachen. Er hatte Karriere gemacht, ja, hätte stolz sein können, auch das - und doch er war es nicht. Er war verzweifelt. Beten half nicht, Fasten half nicht, Mönch sein half nicht - denn er rang mit der Frage: Wie kann ich das schaffen,  dass  Gott zu mir sagt: „Es ist alles gut“? Wie kann ich mit meinem Leben und mit Gott ganz und gar im Einklang sein? Mit dieser Frage durchwachte Luther manche Nacht...

 

Ach, zurück noch mal zu unserem heiseren Hahn. Auch der wachte. Die Nacht war lang und kalt. Noch vor Sonnenaufgang flatterte er von seiner Hühnerstange und schaute voller Furcht in Richtung Osten. Heiser wie er war, würde er nicht krähen können –  dann nahm er etwas Seltsames wahr. Obwohl er keinen Mucks von sich geben konnte, zog mitten im Dunkel der Nacht ein grauer Streifen auf. Dann traf ein erster Lichtstreif auf den Hühnerhof, und wenig später ging der heißgeliebte Sonnenball in all seiner Pracht auf!

 

Vergleichbar mit dem, was jener Doktor, Theologe und Professor in Wittenberg erlebte. In seinem dunklen Turmzimmer bereitete er sich auf seine nächste Lesung vor. Wie konnte er Gott gerecht werden? Weder durch beten, noch durch fasten, erst recht nicht durch Ablass oder gar durch Reliquien! Wie dann? Wie kann ein Mensch vor Gott gerecht werden? Alles war dunkel, bis plötzlich ein Lichtstrahl in das dunkle Turmzimmer fiel. Ein Lichtstrahl durch einen Bibelvers (Röm. 1,17): "Der Gerechte wird aus Glauben leben". Martin Luther notierte es später so: Da fing ich an, zu verstehen, dass diese  Gerechtigkeit Gottes Geschenk ist. So wurde mir diese Stelle des Paulus wahrlich zur Pforte des Paradieses. Wir können uns nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Wir  rufen die Sonne nicht herbei, stehen nicht im Zentrum des Kosmos. Wir werden gerecht, weil Gott uns gerecht macht. Wo Gottes Liebe ist, muss sich niemand beweisen.

 

Ach, und wie erging es dem Hahn? Obwohl er kein Krähen herausbrachte, spürte er staunend wie die Sonne seine Federn wärmte. Die Sonne ging über ihm auf, ohne sein Zutun, ein Geschenk des Himmels. Sein Krähen hat er deswegen nicht aufgegeben – doch es klang fortan entspannter und – ja! – dankbarer!

 

Luther übrigens wurde klar, dass die Kirche seiner Zeit mit seiner Erkenntnis nicht viel zu tun hatte. Er wollte sie reformieren, sie verändern. Dafür schrieb er die 95 Thesen. Daran erinnert der heutige Reformationstag: Sie verbreiteten sich wie der Wind. Sie fanden Gehör - und wie erwartet Widerspruch. „Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang. Wo willst Du sicher sein?", fragte ein Kardinal. Luther antwortete prompt: Unterm Himmel.

31.10.2016
Pfarrer Jan von Lingen