Gegen die Kälte

Morgenandacht

epd-bild/ Christian Ditsch

Gegen die Kälte
Morgenandacht von Evamaria Bohle
15.02.2023 - 06:35
29.01.2023
Evamaria Bohle
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Noch ist die Schatzkammer leer. „Schatzkammer“ nennt Anna die Gepäckaufbewahrung am Eingangsbereich: ein kleiner Raum, offene Regale, eine Tür mit Schranke. Ab 20 Uhr wird hier eine Person stehen, die für Gepäck eine Nummer ausgibt. Für die Bündel und Tüten und Flaschen und den Kram aus den Jackentaschen. Für die Schätze der Gäste, ihren gesamten Besitz.

Anna leitet eine Notunterkunft der Stadtmission nahe am Berliner Hauptbahnhof. Zwischen November und April ist sie eine Station der sogenannten Kältehilfe. Jeden Tag von 20 - 8 Uhr geöffnet. Das Ziel: Kein Mensch soll in der Nacht erfrieren. „Ich bin nackt gewesen, ihr habt mich gekleidet“, sagt Jesus dazu. #Nächstenliebe.

An diesem Standort gibt es 90 reguläre Plätze. Keller-Räume mit Doppelstockbetten – oben schlafen die, die gesund genug zum Klettern sind. In einem separaten Raum liegen noch ein paar Matratzen - für die Menschen mit den Hunden. Mehr Platz ist nicht. Allerdings, wenn es kalt sei, hätten auch schon gut 130 Leute die Nacht hier verbracht. Dicht an dicht auf dem Boden, auch im zentralen Aufenthaltsraum. Besser als in der Kälte zu bleiben.

In diesem zentralen Raum stehen wir gerade. Hier kreuzen sich alle Wege – zu den Duschen und Toiletten, in die Kleiderkammer, zur Sozialberatung, in die Raucherecke, zu dem Raum fürs Team. Zutritt verboten. Niedrige Decke, künstliches Licht, keine Fenster, Biertischgarnituren, eine Sitzecke, ein nüchterner Tresen für die Essensausgabe. Meist Eintopf und Brote - kommt drauf an, was gespendet wird. Gekocht wird in der Großküche der Stadtmission.

Es ist 15 Uhr. Um diese Zeit ist schon seit Stunden keiner der Gäste mehr da, aber es riecht überwältigend, nach Heimatlosigkeit und Mensch. Ich atme durch den Mund, und konzentriere mich auf die junge Frau, die uns herumführt. Es ist früher Nachmittag. Erst ab 18 Uhr werden die ersten Gäste wieder erwartet. Überwiegend Männer ohne Wohnung, ohne Zuhause, mit und ohne Hunde, mit und ohne Läuse, im Suff oder nüchtern. Alle hungrig, müde, die meisten sehr erschöpft und/oder sehr krank. Das Reich Gottes ist mitten unter euch, denkt es in mir. Rollstuhlfahrer sind auch immer wieder dabei.

Wer sich an die Regeln hält, ist willkommen und darf bleiben, für eine Nacht. Die Regeln sind einfach: kein Alkohol- oder Drogenkonsum i n der Unterkunft. Was vor Ankunft konsumiert wurde, zählt nicht. Keine Gewalt. Den Anweisungen des Personals muss gefolgt werden. Respektlosigkeit gegenüber dem Team wird nicht geduldet. - Wem das nicht gelingt, der muss wieder gehen. Im Wiederholungsfall kann Regelmissachtung zu einem Hausverbot führen. Im ärgsten Fall wird die Security aktiv. Es kommt vor, aber nicht sehr oft, sagt Anna.

Viele Sprachen mischen sich in der Unterkunft - derzeit überwiegen Polnisch, Rumänisch und Deutsch, berichtet sie. Manche erzählten großartige Geschichten aus ihrer Vergangenheit, manche hätten sehr unrealistische Zukunftsträume. Was wahr, was gesponnen sei – Anna hebt die Schultern.

Ob es bedrohliche Momente gäbe? Nicht wirklich. Das würde sie immer wieder gefragt. Es klingt ein wenig genervt: „Es sind gewöhnliche Menschen, wie Sie und ich.“ Sie hätten nur schlechte Entscheidungen getroffen. Die Sozialberatung ist jede Nacht besetzt, die medizinische Ambulanz ist geöffnet und behandelt, was sie behandeln kann - eine Krankenversicherung ist nicht notwendig. 

Morgens um 8 Uhr schließt die Notunterkunft. Dann leert auch die Schatzkammer sich wieder. Die Menschen mit ihren Bündeln, die Hunde mit ihren Menschen, - alle müssen gehen. Aber der Geruch nach Heimatlosigkeit und Mensch, der bleibt.

Es gilt das gesprochene Wort.

29.01.2023
Evamaria Bohle