Gerechte unter den Völkern

Morgenandacht
Gerechte unter den Völkern
22.09.2018 - 06:35
04.07.2018
Julia Heyde de López
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„Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt.“ Diesen Satz kenne ich seit meiner Kindheit. Doch lange wusste ich nicht, dass er aus dem Talmud stammt, einem der bedeutendsten Schriftwerke im Judentum. Ich habe mich mit einem Rabbiner getroffen, um mit ihm über diesen Satz zu sprechen. Er erzählte mir zunächst von Yad Vashem. In der Gedenkstätte in Jerusalem wird an die im Holocaust ermordeten Juden erinnert. Alle ihre Namen sind dort aufgeschrieben. Auch der Name seiner Mutter finde sich dort, sagte er. Festgehalten, um zu zeigen, dass bei Gott selbst im Tod niemand verloren geht. In der jüdischen Tradition ist „Gedächtnis“ auch einer der Namen Gottes. Und nicht zufällig steht über der Gedenkstätte in Jerusalem das Wort des jüdischen Mystikers Baal Shem Tov: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Sie ist die Brücke zwischen Gestern und Heute.

 

Die Gedenkstätte Yad Vashem erinnert aber nicht nur an die Opfer des Holocaust. Sie ist auch ein Ort, wo Historiker nach den Namen derer forschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus Juden geholfen haben. Die Verfolgte versteckten oder ihnen zur Flucht verhalfen und ihnen, unter Einsatz ihres eigenen Lebens, das Leben retteten. „In einer Welt totalen moralischen Zusammenbruchs gab es eine kleine Minderheit, die außergewöhnlichen Mut an den Tag legte, um menschliche Werte hochzuhalten. Dies waren die Gerechten unter den Völkern.“ (Webseite Yad Vashem)

 

Für jeden dieser Helfer wird in Yad Vashem ein Baum gepflanzt in der „Allee der Gerechten“. Zum Beispiel für Oskar Schindler, weltweit bekannt geworden durch den Film „Schindlers Liste“. Ich erinnere mich an die bewegende Szene, als die Juden, die durch Schindler überlebt hatten, ihm am Ende des Krieges einen goldenen Ring schenken. Darin eingraviert genau dieser Satz: „Wer nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“. Schindler weint, klammert sich an seinen treuen Sekretär, Itzhak Stern, und ruft: „Es hätten mehr sein müssen.“ Oskar Schindler ist zu Recht so bekannt geworden. Und was ist mit den anderen?

 

Als ich im Internet auf den Seiten von Yad Vashem durch die Namen der „Gerechten unter den Völkern“ schaue, stelle ich fest: von den meisten habe ich noch nie gehört. Zum Beispiel von Helene Jacobs. Über sie ist zu lesen, dass sie Mitglied der Bekennenden Kirche war und zu einem inoffiziellen Helferkreis gehörte, „der Juden Unterkunft gewährte, sie mit gefälschten Papieren ausstattete und mit Lebensmittelkarten versorgte. Jacobs versteckte mehrere Juden in ihrer eigenen Wohnung…“ Oder Otto Weidt. Er betrieb in Berlin eine Werkstatt, in der Besen und Bürsten hergestellt wurden. Fast alle seine Angestellten waren blinde, taube und stumme Juden, lese ich. Weidt kämpfte „furchtlos mit den Gestapo-Beamten um das Schicksal jedes einzelnen jüdischen Arbeiters.“

 

Helene Jacobs, Otto Weidt und all die anderen „Gerechten“ waren normale Bürger, die nicht wegsehen konnten und wollten, als anderen Ungerechtigkeit geschah. Sie verstießen mit ihrer Hilfe gegen das damals geltende Recht, weil sie in den Verfolgten und Geschlagenen ihre „Nächsten“ gesehen haben. Der Mut dieser normalen Bürger, ihre Tapferkeit galt den Mitmenschen. Sie lebten nach dem Prinzip der Nächstenliebe. Mutige und stille Helden.

 

Im Gespräch mit dem Rabbiner habe ich verstanden, dass die jüdische Auffassung von Gerechtigkeit ganz bodenständig im Alltag verwurzelt ist. Gerecht zu handeln bedeutet nichts anderes als jeden Tag Liebe und Barmherzigkeit zu praktizieren. Der Rabbiner ist überzeugt: das talmudische Wort ermutigt auch heute zu Tapferkeit und Zivilcourage. Zum Einsatz für Menschen in aller Welt und vor unserer Haustür, denen Unrecht geschieht. Wo andere diskriminiert, angefeindet, geschlagen, gejagt, zu Unrecht inhaftiert, verschwinden gelassen und getötet werden, kann ich nicht schweigen und achselzuckend an meinen Mitmenschen vorbeigehen. „Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt.“ Ein prophetisches Wort gegen jede Gleichgültigkeit.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

04.07.2018
Julia Heyde de López