Indianergeduld

Morgenandacht

Gemeinfrei via unsplash/ Iva Rajović

Indianergeduld
19.02.2022 - 06:35
28.01.2022
Eberhard Hadem
Sendung zum Nachhören

Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 

Die Sendung zum Nachlesen: 

Auf ihrer Amerikareise haben Sabine und Herbert ein Indianerreservat besucht. Erst waren sie im Geländewagen unterwegs, dann vor Ort zu Fuß. Rund 300 ‚Indian Reservations‘ gibt es zwischen Kalifornien und Florida. Landschaft, Menschen, Kultur, die beiden haben sich vieles angeschaut. Aber sie erzählen von einer Mutter mit ihrem kleinen Jungen. Die beiden sind vor der Tür ihres Hauses gesessen und haben nichts miteinander geredet, nichts gespielt, nichts gemacht. Wortlos sind sie gesessen und haben geschaut. Das allein ist ja noch nicht sonderlich interessant. Nur hätten sie auch Stunden später, als sie noch einmal an dem Haus vorbeikamen, unverändert so gesessen. Nichts geredet, nichts gespielt, nichts gemacht, wortlos geschaut. Das hätten sie noch öfter erlebt, erzählt Sabine, das sei traditionelle indianische Erziehung, die sie fasziniert hat.

Ich überlege, wie solcher Langmut innere Kräfte stärkt, inwendige Ruhe verleiht. Und frage mich, ob man dabei Vorräte an Gelassenheit sammeln kann. Und – wie viel Geld ich hierzulande einem Meditationslehrer zahlen müsste, damit er mich derart sitzen lehrt. Und wenn ich bei Rot an der Ampel stehe und sehe, wie es alle nicht erwarten können, dass es endlich weitergeht – ich selbst ja auch – stets im Kampf um Sekunden! Vielleicht sollte Warten zum Pflichtfach werden. In Fahrschulen, in wer weiß welchen Schulen, in der Schule des Lebens allemal. Im Kleinen leuchtet mir das meistens ein. Wie viel Stress könnte ich mir sparen, würde ich geduldig warten können?

Das Leben in der Pandemie zwingt gerade zum Warten in einem Ausmaß, das für manche unerträglich ist. Wenn dann ein Medizinhistoriker wie Karl-Heinz Leven am Institut für Geschichte und Ethik der Universität Erlangen von der Geduld spricht, die wir nach wie vor aufbringen sollten – dann ist meine Reaktion wie ein zuckender Reflex, als hätte man mir mit dem Hämmerchen vor die Kniescheibe geschlagen: Wie lange denn noch? Der Medizinhistoriker sagt in typisch wissenschaftlicher Nüchternheit: „Kurzatmige Versprechungen über das ‚Ende‘ von Corona sind zu vermeiden, sie werden stets von der Realität widerlegt.“

Dass das Leben so arg in Schieflage gerät, darauf war niemand recht vorbereitet. Dass es Dinge gibt, die jenseits der eigenen Verfügungsmacht liegen und tiefe Ängste auslösen. Corona setzt eine Zäsur. Weil es alle in die Pflicht nimmt und fragt: ‚Wie willst du mit dir selbst und mit anderen umgehen, Tag für Tag?‘ Pandemie, das heißt auch: Niemand auf der ganzen Welt kann sich von dieser Frage distanzieren. Ob ich will oder nicht: Irgendwie muss ich mich dazu verhalten.

Ich stelle mir vor, die indianische Mutter und ihr Sohn sitzen auch heute vor der Tür und denken still über diese Frage nach: Wie will ich heute mit mir selbst und mit anderen umgehen? Und ich denke daran, wie reflexhaft ich in einer kurzen Arbeitspause auf die neuesten Corona-Nachrichten reagiere. Ich bin sicher, dass die indianische Mutter mit ihrem Sohn zu anderen Ergebnissen ihres Nachdenkens kommt als ich in meinem hektischen Reflex.

Wie geht Warten in der Pandemie? Vielleicht ja so: Das, was geschieht, ist nicht immer ausschließlich Schmerz. Ist nicht immer nur ein Schrecken ohne Ende. Ich bin nicht nur Opfer. Spuren von Güte im Leben zu entdecken, bei anderen und auch bei mir selbst, das ist warten können. Sehen, was trotzdem an Glück möglich ist. Dass Verzeihen gelingt. Wenn sich Tatkraft und Phantasie zusammentun und etwas möglich wird, von dem vorher alle sagten: Da kann man nichts machen. Das ist warten können.

Das Warten der Gerechten wird Freude sein, heißt es in den Weisheitsbüchern der Bibel (Spr. 10,28). Nicht weil die Pandemie irgendwann einmal vorbei sein und dann die Freude wiederkommen wird. Nein, weil mich das Warten lehrt, jetzt die Glücksmomente und die Freude zu entdecken. Auf dem Warten können scheint mir Segen zu liegen.

Es gilt das gesprochene Wort.

28.01.2022
Eberhard Hadem