Leben im Provisorium

Morgenandacht
Leben im Provisorium
29.10.2019 - 06:35
18.07.2019
Petra Schulze
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Nach dem Umzug: Der alte Schuhschrank ist auf dem Sperrmüll. Ein neuer noch nicht gekauft. Aber irgendeine Ablage brauche ich für die Schuhe. Also erstmal zwei Gemüsekisten mit einem Regal-Brett drüber aufgestellt. Dabei ist es bis heute geblieben. Und irgendwie sieht das Provisorium gar nicht so schlecht aus. Aus dem Provisorium wurde ein Providurium nach dem Motto: Nichts ist so haltbar wie ein Provisorium. Und wie schreibt die Journalistin Ursula Ott: „Manchmal hält die Schwimmflosse unter der Tür tatsächlich besser als der Designertürstopper.“

 

Wahre Meister in der Herstellung von sinnvollen Provisorien sind die Ostdeutschen. Als ich in der Nähe der polnischen Grenze einen Besuch mache, zeigt mir ein Bekannter seine große Scheune. Darin lagern Handwerkszeug, Schrauben, Nägel, Bindfäden, Drähte, Bleche, Gummireifen, Holzstücke und –bretter in allen Größen. In der ehemaligen DDR war dies sein Schatz. Er hatte immer einen Einfall, wie man auch auf unkonventionelle Weise funktionstüchtige Geräte, Möbelstücke oder Behältnisse herstellen kann.

 

Manches ursprüngliche Provisorium hat längst Eingang gefunden in das moderne Design. Da gibt es zum Beispiel Untertassen mit einem Plastikaufsatz für eine Kerze – für viel Geld zu kaufen. Oma hat das auch ohne Plastikaufsatz geschafft. Oder da werden Backsteine als Kugelschreiberhalter verkauft. Provisorien haben eben Charme. Und nachhaltig sind sie auch.

 

Provisorien sind – wenn sie nicht aus Not entstehen – eine Art Protest. Ich gehöre zu der Generation, in der sich viele gegen Einbauschränke gewehrt haben. Gegen Stillstand und Spießigkeit waren wir provisorisch unterwegs. In WGs gewohnt, Matratze auf dem Boden, möglichst wenig Ballast im Lebensgepäck – das war das Motto, nicht nur aus Geldmangel.

 

Ganz anders unterwegs ist die jüngere Generation der heute 30-40jährigen. Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald hat diese Generation untersucht, als sie noch Jugendliche waren. Generation Biedermeier heißt die Studie, er fand heraus: „Die Jugendlichen (…) haben das (…) Gefühl, in einer brüchigen, zerrissenen Welt zu leben, (…) in der alles vom Absturz bedroht ist. Das fängt in den Familien an, die vielfach auseinanderbrechen, und es geht bis zur Politik, wo sogar Bundespräsidenten über Nacht verschwinden und Währungen wie der Euro womöglich auch. Daraus erwächst der Traum, Verlässlichkeit herzustellen.“ Und so stehen die jungen Erwachsenen auf fest Verschraubtes: massive Einbaumöbel, Treue in der Partnerschaft, Schrebergarten – das kleine, überschaubare, private Glück.

 

Verstehen kann ich das, auch wenn ich hier anders denke. Tatsächlich sind solche Einstellungen ja bei manchen schon so eine Art Religion. Da allerdings regt sich bei mir Widerspruch: Lebensintensität kann durch zu viel Sicherheit erstickt werden. Manchmal denke ich, auch die Religion selbst wird dadurch erstickt. Die meterdicken, scheinbar unverrückbaren Kirchenmauern von heute sind vielleicht nicht so durchlässig für einen lebendigen Glauben wie die dünnen Zeltwände unserer jüdischen Vorfahren.

 

Das Volk Israel war ein „Volk unterwegs“ – immer wieder forderte Gott es auf, weiterzuziehen, zu leben auf ein größeres Ziel hin. Das war das gelobte Land – wo Friede herrscht, Gerechtigkeit wohnt und Milch und Honig für alle fließen. Und heute wie damals geraten die Menschen immer wieder in Versuchung, stehen zu bleiben. Es sich gemütlich zu machen. Sich einzukuscheln in das private Glück.

 

Meine Provisorien zu Hause – das selbstgebastelte Schuhregal, mein aus Ästen und Schiffsplanken zusammengezimmerter Couchtisch – die sind meine äußeren Erinnerungszeichen dafür, dass ich auf dem Weg bleiben will. Es mir nicht zu gemütlich zu machen. Mich weiter von Gott rufen zu lassen, dahin, wo er mich braucht. Für sein größeres Ziel. Ich bin sicher – dort können alle gut wohnen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literatur:

Essay / Lebensart und –philosophie, Februar 2012, Ursula Ott „Das wird noch, ich mach das später“ aus: http://chrismon.evangelisch.de/artikel/2012/das-wird-noch-ich-mach-das-spaeter-13449

https://www.zeit.de/wirtschaft/2012-08/german-dream-gruenewald (letzter Abruf 16.10.2019)

18.07.2019
Petra Schulze