Lücken zumauern

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash / Bekky Bekks

Lücken zumauern
von Melitta Müller-Hansen
09.11.2022 - 06:35
29.07.2022
Melitta Müller-Hansen
Sendung zum Nachhören

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Die Sendung zum Nachlesen: 

Was brauchen Menschen zum Zusammenleben? Wie steht es um die Gerechtigkeit? Mit diesem Kompass in der Hand geht der Prophet Jesaja durch sein Land, das in einer großen Umbruchsituation ist und etwas so Komplexes zu bewältigen hat wie den Wiederaufbau eines Gemeinwesens. Nach einem endlos scheinenden Exil kehren einst Deportierte zurück. Häuser, Städte, den Tempel in Jerusalem wiederaufbauen! Und alle Welt soll es sehen: Gott hat uns nicht verlassen, er hat uns gerettet! Mit Fastenumzügen feiern sie das, großer Staat, Pomp and Circumstance, beeindruckend in der Öffentlichkeit.

Aber außer dem großen Gefühl, wir sind wieder wer, ist nichts zu spüren von Gott – er antwortet nicht. Da lenkt der Prophet den Blick woanders hin: Brot, Nahrung, Kleidung, Herz. Wenn du der Unterdrückung bei dir ein Ende machst, nicht übel redest, den Elenden sättigst, stößt du auf Gottes „Siehe, hier bin ich“. Und der schönste Name für Menschen, die dabei mitwirken, ein Land aufzubauen, ist: „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen kann.“

Bei diesem Namen tut sich ein ganzes Bilderbuch vor mir auf, heute am 9. November: Menschen tanzen auf der Mauer in Berlin. Grenzanlagen werden abgebaut, Straßen und Häuser bewohnbar, befahrbar gemacht. Die ganz materielle Arbeit der Wiedervereinigung. Nicht zu vergessen die seelische Arbeit des Lückenschließens. Sie ist noch immer nicht abgeschlossen. Menschen, die eine Lücke in ihrer Biografie schließen wollen und dazu ihre Stasi-Unterlagen einsehen. So viele fragen sich immer noch: Wer hat da was mit mir gemacht? Man hat sich gegenseitig besucht, um die Lücke des Nichts-voneinander-Wissens zu schließen. Kirchengemeinden, Verwandte.  Was für ein Glück war es für mich, vor 20 Jahren zum ersten Mal in der Nikolaikirche in Leipzig zu stehen, mit ihren weißen Säulen und hellgrünen Palmblättern aus Stuck, die wie Palmbäume ins Gewölbe hochschießen und einen unwillkürlich nach oben ziehen. Das also ist der genius loci der friedlichen Revolution. Und dann mit Menschen hier ins Gespräch zu kommen, die sagten, dass sie ein Wunder biblischen Ausmaßes erlebt hätten, damals, als alles friedlich verlief.

Jeder hat Menschen erlebt, die sich engagieren für das Zusammenwachsen und das Aufbauen, ja, und ist vielleicht selbst beteiligt. „Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen kann“.

„Lebensträger ist immer die einzelne Seele, der einzelne Mensch“, hat der Psychologe Carl Gustav Jung formuliert. Wenn man das Du des Propheten hört, dann steckt genau das drin.  Er redet eine ganze Gemeinschaft an mit diesem DU - und doch zielt es ganz auf jeden persönlich. Lebensträger ist immer der einzelne Mensch. Auch wenn es um etwas so Großes geht wie Gerechtigkeit und Freiheit.

Welche Politikerin könnte in unserem Land die Armut bekämpfen und Gesetze formulieren, die die Kluft zwischen Arm und Reich schließen – wenn sie selbst Menschen in Armut verachtet? Welcher Lehrer könnte Kinder, deren Muttersprache nicht deutsch ist, so fördern, dass sie Freude am Lernen haben – wenn er selbst denkt: die sind zu dumm. Sollen sie gehen, woher sie oder ihre Eltern kommen! Wie hätte Joachim Gauck die Behörde zur Archivierung und Aufarbeitung der Stasiunterlagen ins Leben rufen können – wäre er nicht überzeugt davon gewesen, dass die Wahrheit Menschen frei macht, wie weh sie auch tun mag.

„Lebensträger ist immer der einzelne Mensch“. Was Einzelne denken und wollen, was Einzelne für ein inneres Bild vom Zusammenleben haben, das fließt in Gesetze und Verfassungen. Und wenn viele das wollen, was Leben fördert, dann zeigt die Nadel auf dem Kompass in Richtung Gott und Gerechtigkeit.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

29.07.2022
Melitta Müller-Hansen