Perspektivwechsel

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Alif Ngoylung

Perspektivwechsel
Morgenandacht von Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz
25.04.2023 - 06:35
01.02.2023
Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz
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Beim Fotografieren habe ich gelernt, wie wichtig die Perspektive ist. Ein Motiv sieht von unten ganz anders aus als von oben. Diese Vogelperspektive von oben ist eher langweilig, wenig dramatisch, bietet aber die beste Übersicht.

Von unten, aus der Froschperspektive, wirken Motive dynamischer und dramatischer, manchmal gar bedrohlich. Das ist aber nur das kleine Einmaleins der Perspektive. Was Kameras mit unterschiedlichen Perspektiven erzählen können, kann man in Spielfilmen erfahren: Wenn man sich am Anfang eines Films zurechtfinden soll, gibt es oft eine „Totale“, eine Übersichtseinstellung von einem höhergelegenen Standpunkt. Da passiert nicht viel, aber es hilft, sich beim Zuschauen zu orientieren. Eine tiefen Kameraperspektive will meist das Gegenteil. Konsequent umgesetzt hat das zuletzt die Fernsehserie „Der Schwarm“, wo die Bedrohung ja aus dem Meer, also von unten kommt und die Kamera ganz viel von unten gefilmt hat, um zu verunsichern und Spannung zu erzeugen. Auch bei großen Sportevents wie Fußball oder Olympiade spielen Regisseure mit der Perspektive. Kameras sind fast in jedem Winkel und erreichen auch jeden, sie bewegen sich mit den Sportlerinnen und Sportlern. Und im Internet kann man bei Events wie der Olympiade sogar selbst die Perspektive wählen, die man gerade sehen möchte.

Das Spiel mit verschiedenen Perspektiven ist in den Medien selbstverständlich.

Im wirklichen Leben ist es nicht so einfach, die Perspektive zu wechseln. Jeder Mensch hat zunächst nur seine eigene - und das ist uns Menschen meist viel zu wenig bewusst. Im Beruf, in der Familie, in Beziehungen oder auch in der Religion: wir sehen die Welt immer aus unserer Perspektive, wir können nicht aus unserer Haut. Konflikte und Streit entstehen, wenn man die eigene Perspektive für das Ganze hält, sich nicht klar macht: die eigene Sicht ist nicht die der anderen. Und: deren Sichtweise ist gleichberechtigt neben meiner eigenen.

In der Psychotherapie und in vielen Coachings gehört es dazu, sich genau das klar zu machen: man sieht eine Sache einseitig, sie hat aber mehrere Seiten und Perspektiven. Und das Hineinversetzen in die Perspektive des anderen hilft, Konflikte zu verstehen, sie zu entschärfen - und es erweitert den eigenen Horizont. Seinem Gegenüber sagen zu können: so wie Du habe ich das noch nie oder nicht gesehen - das signalisiert Verstehen und Verständigung.

Die Sicht von oben ist die der Größeren und Mächtigeren. Das erlebt schon ein Kind so mit Vater und Mutter. Wohl deshalb nimmt Gott in den kindlichen wie auch in den antiken Vorstellungen meist die Vogelperspektive ein: Gott sieht von oben „alles“. Das ist zwar nur eine bestimmte Vorstellung. Gott kann auch überall sein und als die alles bestimmende Wirklichkeit verstanden werden. Oder Gott kann als Grund des Seins verstanden werden, als das, was mich Menschen trägt. Die Vogelperspektive für Gott drückt aber Gottes Überlegenheit aus. Sie macht ihn erst zu Gott und unterschiedet vom Menschen.

Christen glauben, dass Gott selbst die Perspektive gewechselt hat. Er hat seine Gottesperspektive aufgegeben und die menschliche Perspektive eingenommen. Das hieß für Gott, auf Macht zu verzichten, nicht mehr überlegen zu sein. In Jesus hat Gott Leiden und Tod selbst erfahren. So hat Gott die menschliche Perspektive gewonnen und die Opferperspektive durchlitten. So kann er Menschen anders und neu nahekommen. Gott ist - jedenfalls für Christen - nicht der leidensunfähige, der unbewegte Beweger, den sich die Philosophie erdacht hat. Gott ist auf der Seite aller, die leiden. Gott kommt den Menschen nahe. Dieser Perspektivwechsel Gottes geschieht aus Leidenschaft für seine Schöpfung, für diese Welt und ihre Menschen. Das ändert die menschliche Sicht auf Gott radikal. Das Neue Testament bringt das in drei schlichten Worten auf den Punkt: Gott ist Liebe.

Es gilt das gesprochene Wort.

01.02.2023
Pfarrer Thomas Dörken-Kucharz