Offene Fragen

Morgenandacht
Offene Fragen
27.06.2018 - 06:35
01.03.2018
Evamaria Bohle
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Es gibt eine Menge Fragen, die Hans und Grete nicht aus dem Handgelenk beantworten können: Wie genau funktioniert ein Scanner? Was passiert bei einem Blitzeinschlag? Wie heißt der Bundestagspräsident? Störend finden sie diese Leerstellen in ihrem Kopf nicht. Manchmal vielleicht ein wenig peinlich. Aber was Hans und Grete wissen wollen, finden sie auch heraus, und der Alltag gelingt trotz Wissenslücken. Solange alle gesund sind, solange Internet, Auto, Spülmaschine, Demokratie und Krankenversicherung funktionieren, ist alles gut. So leben Hans und Grete mit ihren offenen Fragen. Und trotzdem traut Grete sich täglich aus dem Haus. Und doch ist Hans sich seiner Sache oft sehr sicher.

 

Es gibt eine Menge Fragen, die Angela nicht aus dem Handgelenk beantworten kann. Wird der Frieden halten? Wie organisieren wir eine Welt, in der niemand mehr verhungern muss? Wieso werden Menschen rechtsradikal, und halten das für Heimatliebe? Sie kennt die Antworten nicht, und das Leben verrinnt. Wale sterben, Bienen sterben, Kreuze werden in öffentlichen Gebäuden aufgehängt. Schon wieder spricht jemand davon, eine Mauer zu bauen, und die Welt schaut Fußball. „Achtung! Gehwegschäden“, warnen ernste Straßenschilder. Deutschland kann so seltsam sein.

 

Es gibt eine Menge Fragen, die sich nicht aus dem Handgelenk beantworten lassen: Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum? – Und alle, alle reden durcheinander. Zum Ersten, zum Zweiten. Einige stehen am Rand und schweigen spöttisch, eine Hand wäscht die andere, ein Baby schreit, und die großen Kinder müssen in die Schule. Nichts geht mehr. Hinten schwenken welche Transparente. Eine betet ein Vaterunser, jemand reicht etwas Gebäck herum. Espresso, Pfefferminztee, eine Wasserpfeife. Drei Brote und fünf Fische. Ein alkoholfreies Bier. Couscous für alle. „So wahr uns Gott helfe“, sagt der alte Richter. Es gibt Länder, in denen für Touristen Milch und Honig fließen. Wir fahren ans Meer, bauen Sandburgen, essen Pizza, Pasta und Austern. Surfen, auch im Internet, denn das WLAN ist frei. Am Strand wird nicht gestorben. Selfies mit Boot und Bikini. Wie blau doch das Meer ist. „Wir können doch nicht alle aufnehmen“, glaubt Grete. Angela nickt, und Hans spendet für „Brot für die Welt“. In einem halben Jahr ist schon wieder Weihnachten.

 

Es gibt so viele Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Müdes Hirn und müdes Herz. Zum Weinen geht Angela in den Keller. Dorthin, wo das Eingemachte verwahrt wird. Glaube, Hoffnung, Liebe schimmern in alten Gläsern. Kirschen und Birnen aus ferneren Sommern für noch härtere Winter. Manchmal trifft sie dort Hans oder Grete. Wir kauern gemeinsam auf der Kellertreppe. „Heile, heile Segen“, sang Großmutter früher. Ach, wenn sie nicht gestorben wäre.

 

Dann machen Angela, Hans und Grete weiter wie immer. Wir klopfen uns dreimal an die Stirn, steigen in die Limousine, in die S-Bahn, aufs Fahrrad und fahren nach Hause. Die Meeresspiegel steigen lautlos, in China fällt ein Sack Reis um und jemand twittert: „Gott stürzt die Mächtigen vom Thron.“

 

Es gibt so viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Aber ich trenne den Müll und kann immer noch schlafen. Meistens jedenfalls. Mächtige Männer spielen mit Atombomben, machtlose Kinder verhungern, ein zorniger Alter mit Krawatte verwendet die Worte „Nazis“ und „Vogelschiss der Geschichte“ in einem Satz. Man muss gar nicht mehr ausziehen, um das Fürchten zu lernen. Hans und Grete, Angela, die andern und ich hoffen, dass der Friede hält. Wir kennen ja nichts anderes. Wie viele Fragen es gibt. „Fürchtet euch nicht!“ singen die Engel, „Fürchte dich nicht“, sagt Gott.

01.03.2018
Evamaria Bohle