Von Träumen, die Träume blieben

Morgenandacht
Von Träumen, die Träume blieben
23.08.2018 - 06:35
04.07.2018
Tim Jochen Kahlen
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„Von Luftschlössern, die zerbrochen sind, von Träumen, die Träume blieben, von denen, die vor Scherben steh’n, und wieder neu beginnen, geht ein Lied durch meinen Sinn.“

 

Reinhard Mey hat mir diesen Satz ins Herz gelegt. Da war ich zehn. Ein Lied vom Scheitern und Neubeginnen. Kein Kinderlied, aber zum Glück wusste ich das nicht. Heute spreche die Strophen still in meinem Kopf, wie ein Gebet.

 

Die alte Grundschulklasse meines Sohnes ist eingeladen. Und da bete ich mit diesen Worten für Katja und die Freunde mei­ner Kinder. Zwölf Jahre nach ihrer Einschulung treffen sie sich wieder. Junge Er­wachsene sind sie geworden, Auszubildende und Oberschüler, frische Abiturienten. Nur Katja ist nicht da – sie fehlt.

 

Sie hat es wohl nicht übers Herz gebracht, hierherzu­kom­men. Zu tief sitzt der Schmerz – und vielleicht auch die Scham. Katjas Freundin hat den Numerus Clausus für Medizin gepackt, Katja hat das Abitur nicht geschafft.

 

„Von Luftschlössern, die zerbrochen sind, von Träumen, die Träume blieben, von denen, die vor Scherben steh’n, und wieder neu beginnen, geht ein Lied durch meinen Sinn.“

 

Katja ist die Klassenkameradin, die immer bangen musste. Katja, die Fleißige, die durch Arbeit wettmachte, was anderen im Schlaf geschenkt wird. Sie wagte sich aufs Gymnasium, auch wenn die Eltern ihr bald nicht mehr helfen konnten. Katja ist kein einziges Mal sit­zen geblieben, kein einziges Mal – bis man ihr die Zulas­sung zum Abitur verweigerte.

 

Manchmal bist du nur zur falschen Zeit im fal­schen Englischkurs, dort wo der Lehrer strenger wertet als seine Kollegen.

 

Wäre Katja zum Klassenfest gekommen, sie hätte vielleicht ge­spürt, dass sie nicht allein ist. Viele aus der 1b von damals sind schon in die­sen frühen Jahren ihres Lebens an Grenzen gestoßen, mussten durch Krisen, Tiefschläge und Brüche.

 

Tom ist von der Schule geflogen, als seine Eltern sich trennten. Volkan lebt heute in der Türkei: Die Heimat seiner Eltern, ihm ist sie fremd.

Leas beste Freundin hat sich eines nachts zu Tode gefahren. Und viele sind einmal sitzengeblieben oder mussten die Schule wechseln.

 

„Von Luftschlössern, die zerbrochen sind, von Träumen, die Träume blieben, von denen die vor Scherben steh’n, und wieder neu beginnen, geht ein Lied durch meinen Sinn.“

 

Reinhard Meys Worte klingen in mir wie Klage und Fürbitte zu­gleich. Mey bringt zur Sprache, wovon Abschlussfeiern schwei­gen. Er singt vom Scheitern, ohne darin stehen zu bleiben. Die Klage lässt er hinter sich, ohne Zuflucht in billigem Trost zu suchen. Ein aufsteigender Melodiebogen und das Wort vom „wieder Neube­ginnen“ müssen reichen. Mehr Hoffnung wäre auch zu viel.

 

Das Lied vom Neubeginnen ist kein Kinderlied. Trotzdem hat es mich schon als Kind berührt. Wer sagt denn, Neubeginnen sei für junge Menschen leichter? Tom, Lea und die anderen haben in der Mitte ihres beginnen­den Lebens das Neu­beginnen lernen müssen. Sie haben vor Scherben gestanden und sie irgendwie aufgehoben. Ich hoffe, Gott, du warst du bei ihnen. Und ich hoffe, Gott, du weißt, wofür es nötig war. Ich will dir dankbar sein für jeden Neubeginn, der gelingt.

 

Auch Katja wird mit scheinbar leeren Händen neu beginnen. Sie will keinen zweiten Versuch um doch noch ihr Abitur zu schaffen. Während die anderen feiern, sucht und findet sie ein neues Bild von sich selbst.

 

„Von Luftschlössern, die zerbrochen sind, von Träumen, die Träume blieben, von denen die vor Scherben steh’n, und wieder neu beginnen, geht ein Lied durch meinen Sinn.“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

04.07.2018
Tim Jochen Kahlen