Another day

Wort zum Tage
Another day
30.01.2021 - 06:20
21.01.2021
Ulrike Greim
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Er ist heftig ungepflegt, riecht nach Alkohol und – pardon – nach Urin und spricht uns an. Ob wir ein bisschen Kleingeld hätten, es sei kalt. Ich will lieber einen Bogen machen, aber weiß, dass alle gern um ihn einen Bogen machen, wenn er so ankommt. Wir öffnen das Portemonnaie und geben ihm fünf Euro. Und wünschen noch ein gutes neues Jahr. Fünf Euro. Gutes neues Jahr – für jemanden, der auf der Straße lebt. Er bedankt sich sehr. Seine Augen sehen noch jung aus, der Körper ist alt.

 

Dieter sagt: Gib denen. Egal, ob sie es versaufen. Dieter arbeitet bei der Stadtmission. Er sagt: „Ein Alki braucht Alkohol, sonst stirbt er. Kalter Entzug – absolut grässlich. Sprich mit ihnen. Du kannst sie fragen, was sie brauchen. Manche Antworten werden dich überraschen. Es sind Menschen, keine Aliens. Meistens alkoholkrank.“

 

Wir machen nur einen Spaziergang. Uns geht es gut. Die Wohnung ist warm und bezahlt. Wir haben Glück. Viele hatten mal Pech. Einmal kurz aus der Bahn geflogen und auf der Straße gelandet. Und ab da: abwärts in der Spirale. Die Scham ist groß und sie schmerzt.

Oh, think twice, ‘cause it’s another day for you and me in paradise.

 

Singt Phil Collins. Und spendet einen Teil seines Honorars für ein Arztmobil, das Obdachlose behandelt. Ohne Karte. Die Ärzte sehen da Sachen – man möchte es nicht weitererzählen, so eklig.

Phil Collins hat zugegeben, mit diesem Song sein Image etwas aufpolieren zu wollen. Er sei zu mainstreamig, hatten die Kritiker damals gesagt, spiele zu sehr, was alle hören wollen. Also mal was Soziales. Er singt von Obdachlosen und wie sie betteln. Wie sie verzweifeln. Das Video dazu zeigt die Bilder und die erschreckenden Zahlen.

Think twice, ‘cause it’s another day for you and me in paradise.

 

Hauptsache, das Thema kriegt Aufmerksamkeit. Auch mit Phil Collins, denke ich. Egal, warum er spendet, Hauptsache er spendet.

Dieter sagt: Suche doch bitte nach Argumenten, die dein Herz weit machen und nicht eng.

Es würde einem gut stehen, freigiebig zu sein.

Ich mache den Test und merke: So gefalle ich mir besser. Mir steht es besser zu spenden, als wegzuschauen, ein doofes Gefühl dabei zu haben, wenn ich vorbeigehe. Die fünf Euro tun nicht weh. Hier nicht und nicht beim nächsten und übernächsten Menschen, der mich anspricht. Und selbst wenn: Lieber geben und das Herz wächst, als das Geld zusammenzuhalten, als könnte es unser Leben verlängern.

 

 

Wen meint eigentlich Phil Collins, wenn er sagt, dass da ein anderer Tag für dich und mich im Paradies sei? Vielleicht, dass es ein Paradies gibt, in dem die Gestrandeten endlich aufgehoben sind, ihre Wunden versorgt und wo wir am Tisch sitzen, gebadet und gut gekleidet, und zünftig essen und trinken. Glaube ich das? Ja. Ich glaube.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

21.01.2021
Ulrike Greim