Den Engeln gleichen

Wort zum Tage
Den Engeln gleichen
07.07.2016 - 06:23
04.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

„Mensch, lerne tanzen, sonst wissen die Engel nichts mit dir anzufangen!“ Dieser herrliche Satz soll von Augustinus stammen. Rhythmus, fließende Armbewegungen, leichte Schritte, Drehungen, Springen, die Schwerkraft überwinden und ein wenig das Gefühl haben von Fliegen. Ja, das heißt Tanzen. Und es heißt den Engeln gleichen. Eine erste Ahnung davon bekam ich als Kind auf den Tanzfesten in meinem Dorf. Und dann an den Donnerstagabenden, wenn wir Radio Ljubljiana empfingen, die Teppiche im Wohnzimmer beiseite räumten und Walzer und Polka aufs Parkett brachten. Schweben, die Seele fliegt davon und der Körper wird leicht. Ja, wirklich etwas Himmlisches.

 

In diesem Jahr habe ich den traditionellen Apsaratanz in Kambodscha kennen gelernt. Und allein beim Zuschauen sind mir die Augen übergegangen vor Freude. Eine junge zierliche Tänzerin in weiße Seide gehüllt, eng anliegend das Kleid, auf dem Kopf eine golden schimmernde Krone, eine kleine zierliche Gestalt, die sich anmutig bewegt. So beginnt jeder Tanzabend. Die Handflächen vor der Brust zusammengelegt, hebt sie sie zu den Lippen und dann zur Stirn – es ist die Gebetshaltung, wie man sie in jedem Tempel bei den Menschen beobachten kann. Dann öffnet sie die Arme, schlägt kleine Bögen. Die langen schmalen Finger biegen sich und erzählen ganze Geschichten vom Aussäen, Aufblühen und Ernten der Lotusblume. Die heilige Pflanze der Reinheit. Das Gesicht schaut wie aus einer anderen Welt mit tiefem Ernst. Und die barfüßige Tänzerin bewegt sich unendlich langsam, wendet sich, setzt die Schritte bedächtig und bewusst, ein leichtes Schwingen entsteht. Sie bringt den Zuschauern die himmlischen Sphären vors Auge, das ist die Grundidee dieses Tanzes. Man erkennt etwas von der Seele dieser Kultur dabei. Denn diese anmutigen heutigen Tänzerinnen stehen in einer langen Tradition. Auf den Steinreliefs der großen Angkor-Tempel sind sie verewigt: unglaublich filigrane, anmutige Gestalten, keine wie die andere, individuell gekleidet und bis zum Gesichtsausdruck feinstens gearbeitet. Vor den lächelnden Apsaras kann man ewig stehen.

 

Natürlich haben die Roten Khmer, als sie dieses Land und seine Menschen verwüsteten, auch die Tradition der heiligen Tänze fast ausgelöscht. Wer heute die jungen Mädchen und neuerdings auch Jungs tanzen sieht, hat auch etwas vor Augen, was wir Christen mit der Erfahrung von Auferstehen ausdrücken. Den Engeln gleichen. Was die Menschen Jahre lang nicht mehr durften, im Tanz ihren Glauben ausdrücken, das ist wieder möglich und ans Licht gekommen.

04.07.2016
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen