Die Tugend der Dankbarkeit

Wort zum Tage
Die Tugend der Dankbarkeit
09.05.2019 - 06:20
28.02.2019
Autor des Textes: Diederich Lüken
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Meine Tante wird in wenigen Wochen 90 Jahre alt. Sie lebt in einem Heim mit betreutem Wohnen, ist halb blind und fast völlig taub und kann sich nur mit dem Rollator fortbewegen. Aber in jedem Brief, den sie mir schreibt – ihre Schrift ist noch völlig klar – betont sie, wie dankbar sie ist. Darin kommt keine Klage vor, nur Dank gegenüber Gott und ihren Mitmenschen. Das ist bei aller körperlichen Schwachheit ihre Stärke, dass sie unablässig Dinge sucht und findet, für die sie dankbar sein kann. Deshalb ist es immer ein erfrischendes Erlebnis, ihre Briefe zu lesen. Sie setzt sich wohltuend ab von der Mode, immer alles bekritteln zu müssen, zu wehklagen, wenn die Ansprüche nicht erfüllt werden, und sich zu beklagen, dass nicht alles so läuft, wie man es gern hätte. Zwar erhält heutzutage jede Dienstleistung am Ende ein Dankeschön, aber das ist oft wohl nur ein Akt oberflächlicher Höflichkeit. Was aber zu suchen ist, ist nicht die äußere Wahrung des höflichen Umgangstons. Es ist die tiefe Dankbarkeit, die uns zu Tränen rühren kann. Viele Menschen aber nehmen das, was ihnen an Gutem beschieden ist, einfach hin, ohne groß darüber nachzudenken. Oder sie schreiben es sich selbst zu. Ein begabter und wohlhabender Freund sagte mir einmal: „Es ist dies alles das Werk meiner Hände. Ich musste fleißig sein. Geschenkt hat mir niemand etwas.“ Er erwartete natürlich Lob und Anerkennung für seine Leistungen, die auch anerkennenswert sind. Ich antwortete jedoch: „Das stimmt nicht!“ Er war ganz verdutzt. „Was habe ich denn schon geschenkt bekommen?!“ fragte er etwas eingeschnappt. Ich antwortete mit einem Zitat des Apostels Paulus: „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ Und fuhr fort: „Das Leben hast du geschenkt bekommen. Deine Gesundheit ist ein täglich neues Geschenk. Deine Kraft, mit du deine Aufgaben anpackst, sind ein Geschenk. Und nicht zuletzt dein Geist, mit dem du so viel Erfolg hast. Das alles hast du dir nicht erarbeitet. Es wurde dir geschenkt.“ Nachdenklich nickte er zu meinen Worten. Ich aber fragte den Agnostiker, wem er seinen Dank wohl abstatten wolle. Er schwieg. Meine Überzeugung ist, dass unser Leben und unsere Begabungen nicht einfach Geschenke des Zufalls sind. Dahinter steckt ein großer guter Wille, der Wille Gottes. Damit haben wir ein Ohr, in das wir unsere Dankbarkeit hineinsagen können. So wie es ein biblischer Autor tut: „Ich will dem Herrn danken, solange ich lebe“… Damit bekommt unser Dank ein Gegenüber, und das stärkt unsere Dankbarkeit noch. Und das ist wichtig. Denn nur dem Dankbaren erschließt sich die Fülle dieser Welt. Die große Freude, der ungebrochene Lebensmut, das alles eröffnet sich am meisten dem, der dafür dankbar ist.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

28.02.2019
Autor des Textes: Diederich Lüken