Eigentlich ist es doch ganz schön

Wort zum Tage
Eigentlich ist es doch ganz schön
14.04.2016 - 06:23
11.01.2016
Pfarrer Michael Becker

Sie will nicht mehr. Und sagt das. An der Bushaltestelle. Sie will nicht mehr leben. Neunzig Jahre ist sie, sieht aber aus wie fünfundsiebzig. Feine Haut, elegante Frisur, wie aus dem Ei gepellt. Das Laufen, sagt sie, die Luft. Seit vierzig Jahren ist sie Witwe.

 

Der Mann starb von einer Minute zur andern. Sie war allein mit dem Umzug, der geplant war. Und mit dem Beruf. Arbeiten lenkte mich ab, sagt sie. Aber die Rente. Viele Tage sind gleich. Sonntags die Kirche, das war gut. Geht aber nicht mehr. Das Laufen, die Luft. Zur Bank und zum Einkaufen fährt sie mit dem Bus, das geht. Kerzengerade steht sie da. Man sieht ihr nichts an. Aber sie will nicht mehr. Wenn doch der Herrgott ein Einsehen hätte, sagt sie. Soll man ihr das ausreden.

 

Nein, soll man nicht. Jeder hat ein Recht auf seine Empfindungen. Der alten Dame wird das Leben zu viel. Das Sorgen und Putzen, das Einkaufen und Waschen. Alles zu viel. Sie hat das Recht, so zu fühlen. Sie darf den Herrgott bitten: Vergiss mich nicht; hol mich zu dir. Und zum Ehemann, der schon so lange tot ist. Wieder bei dem sein, der ihr Liebster war, wünscht sie auch. Das redet man ihr nicht aus. Es geht auch nicht. Besser hört man einfach zu und achtet auf die Gefühle hinter den Worten. Die wollen ja eigentlich  raus. Alleinsein, verborgene Schmerzen vielleicht, die Weltmüdigkeit. Das muss raus. Ist ja niemand in der Wohnung, der das mal hört. Dann eben auf der Straße, an der Haltestelle.

 

Zum Glück hört es jemand. Und redet nicht dagegen. Die alte Frau putzt sich die Nase. Und muss Luft holen. Man hört den schweren Atem der Traurigkeit. Nachher wird sie wieder allein sein. Jetzt hört jemand zu. So schön war das mit meinem Mann, sagt sie. Leider ohne Kinder. Sonst aber nur Glück. Sie strahlt ein bisschen. Mein Nachbar fährt mich immer zum Friedhof. Seine Mutter liegt dort. Überhaupt die Nachbarn, sagt sie dann und zählt alle auf. Früher war mehr Streit, heute mögen wir uns. So ein Glück, sagt sie und sieht ihr Leben. Ihr ganzes Leben. Nicht nur die Traurigkeit. Lange schaut sie still, vergisst Haltestelle und Zuhörer. Eigentlich, sagt sie dann und holt schwer Luft, eigentlich ging’s mir gut im Leben. Eigentlich ist es doch ganz schön.

11.01.2016
Pfarrer Michael Becker