Entspann dich mal!

Wort zum Tage
Entspann dich mal!
02.11.2020 - 06:20
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Ich kenne wenige Sätze, die mit hundertprozentiger Sicherheit so genau das Gegenteil von dem bewirken, was sie bewirken sollen. Mein Favorit seit einiger Zeit ist: „Entspann dich mal!“. Besonders im familiären Innenverhältnis findet dieser Satz seine Anwendung. Bei uns wird, wie inzwischen alle Beteiligten wissen, mit diesem Satz garantiert die nächste Eskalationsstufe bei mir erreicht.

„Entspann dich mal.“ Etwas entspannter bin ich schon geworden, seit ich gemerkt habe, dass meine unentspannte Reaktion auf diese Aufforderung keine Alterserscheinung ist.

Dabei möchte ich mich nach diesem Satz noch mehr aufregen, als ich es vorher angeblich schon getan habe. Denn der kommuniziert so viel Hohn, dass er eigentlich schon längst aus unserem Alltags-Vokabular verbannt gehört. Wer sagt, „Entspann dich mal“, meint: Nun werd nicht gleich hysterisch. Alles ganz easy, ganz locker. „Die Aufforderung in drei Worten ist schlicht dazu da, sich selbst auf- und den anderen abzuwerten“, schreibt Lara Thiede in „Jetzt“, dem Onlinemagazin der Süddeutschen Zeitung. Zielgruppe sind die 18-30jährigen. Auch jüngere Menschen als ich sind also betroffen.

Und oft - auch das hat Lara Thiede sehr treffend beobachtet - kommt das „Entspann dich mal“ von der Person, die der Grund für die Aufregung ist. So kann man sich selbst berechtigten Ärger oder Kritik prima vom Leib halten. Das funktioniert nicht zwischen Kindern und Eltern. Und auch sonst funktioniert es nicht gut.

Wenn ich mich so richtig aufrege, hilft mir ein ganz anderer Satz. Eigentlich sind es mehrere, das sogenannte „Gelassenheitsgebet“ des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr. Es beginnt so: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Ich gebe zu, diese Worte haben durchaus Kalenderspruch-Qualität. Aber je länger ich sie kenne, desto wichtiger werden sie mir.

Besonders gut gefällt mir, dass sie mich gerade nicht dazu drängen, sofort gelassen, mutig oder weise zu sein. Denn das wäre „Entspann dich mal“ auf christlich. Nein, diese Worte sind ein Gebet. Um Gelassenheit, Mut und Weisheit kann ich bitten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich alle drei gleichzeitig einstellen. Aber schon zu merken, welche von diesen drei Tugenden ich gerade besonders brauche, hilft mir. Mal ist es Gelassenheit, manchmal Mut. Und Weisheit - ich arbeite dran. Am besten entspannt.

Es gilt das gesprochene Wort.