Europäische Wurzeln

Wort zum Tage
Europäische Wurzeln
12.08.2021 - 06:20
04.08.2021
Melitta Müller-Hansen
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Der Entstehungsmythos Europas erzählt von Raub und Entführung einer Prinzessin aus Phönizien nach Kreta. Ihr wird sexuelle Gewalt angetan und dann wird sie links liegen gelassen, nicht mehr gebraucht. Wie das Christentum von Asien nach Europa kommt, ist ein ganz anderer Gründungsmythos. Er beginnt auch mit einer Frau. Mit Lydia aus Philippi, einer kleinen Stadt in Mazedonien, in Nordgriechenland. Vor knapp 2.000 Jahren lebt sie hier. Auch Lydia hat sozusagen Migrationshintergrund. Sie stammt aus der Stadt Thyatira in Kleinasien. Warum sie den Ort gewechselt hat? Vielleicht gar nicht freiwillig. Nicht selten sind Frauen zu dieser Zeit als Sklavinnen verkauft worden, von einem Ort an einen anderen. In der Apostelgeschichte Kapitel 16 lernen wir sie dann als eine freie Frau kennen, offenbar auch nicht verheiratet. Und sie ist Purpurhändlerin. Ein Farbton zwischen rot und violett, sehr teuer in der Herstellung. Lydia kauft und verkauft Purpurprodukte in einer Stadt, in der man sich solchen Luxus eben leisten kann. Ein Haus hat sie, einem Haushalt steht sie vor. Und sie macht sich ihre eigenen Gedanken über Gott und die Welt. Also eine selbständige Frau. Dann kommt es zu einer zufälligen schicksalhaften Begegnung. Der rastlos umherreisende Paulus und sein Begleiter kommen nach Philippi.

Am Schabbat gingen wir hinaus vor das Tor an einen Fluss, wo wir eine Synagoge vermuteten. Wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die sich dort versammelt hatten. Auch eine Frau namens Lydia, die Israels Gott ehrte, eine Purpurwollenhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu. Ihr öffnete Gott das Herz, so dass sie in sich aufnahm, was Paulus sagte.

Das Christentum in Europa beginnt dort, wo das Judentum schon lange da ist. Da ist ein Moment des Respekts angesagt. Lydia ehrt den Gott Israels. Und Lydia hört zu. Lässt sich ein auf die verrückte Idee des Juden Paulus von einem menschgewordenen Gott. Sie öffnet das Fenster ihrer Seele. Und ihr wird das Herz geöffnet. Das ist mal ein Anfang. Das ist Gesprächskultur. Kein Diskutieren, damit am Ende einer recht bekommt. Kein Überwältigtwerden. Ein echter Dialog. Ein göttlicher Moment. Etwas Neues beginnt, weil eine Frau zuhört. Ohr und Herz öffnet und am Ende ihr ganzes Haus. Fenster auf, frische Luft herein. Türen auf, damit man hinausgehen, Neuland entdecken, und Fremde herein lassen kann. Hochaktuell, da Europas Haus gerade dichtgemacht wird nach außen und nach innen. Lydia hat eine ganz andere Geschichte zu erzählen.

Es gilt das gesprochene Wort.

04.08.2021
Melitta Müller-Hansen