Lebensteppich, Lebensfaden

Wort zum Tage
Lebensteppich, Lebensfaden
11.08.2021 - 06:20
04.08.2021
Melitta Müller-Hansen
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Ein Engel klopft an und kündigt der jungen Maria die Geburt des göttlichen Kindes an. Ein beliebtes Motiv christlicher Kunst. In vielen Darstellungen der westeuropäischen Malerei hat sie ein Buch in der Hand – das heilige Buch. Auf manchen Ikonen sieht man sie im Haus sitzen: in der einen Hand ein rotes Knäuel oder eine Spindel, mit der anderen rechten Hand den roten Faden zwischen den Fingern zwirbeln. Maria ist mit dem Spinnen von Purpur beschäftigt, aus dem der Legende nach der Tempelvorhang für den Tempel in Jerusalem gewebt werden soll. Ein Bild voller Symbolkraft. Ein Seelenbild.

Als Handarbeit ist das Spinnen fast ganz verschwunden aus unserer Kultur. Aber verstehen kann jede und jeder, worum es hier geht. Ungestaltetes, Rohes, Rauhes wird durch die immer gleiche Bewegung der Fingerspitzen verfeinert, zu einem edlen seidenen Faden gesponnen. Ein schöpferischer Vorgang. Ein meditativer Vorgang. Gedanken spinnen, sinnieren. Am Rohmaterial des eigenen Lebens hängenbleiben und ihm nachsinnen. Den roten Faden im Gewirr der vielen Fäden finden. Story-telling, so würde man es heute nennen. Erzähl mir deine Geschichte, und es wird sich dir selbst immer wieder aufs Neue der rote Faden erschließen, dem du gefolgt bist. Dem Faden deines Geistes und deiner Seele. Und es wird sich vor dir ausbreiten das ganze Gewebe deines Lebens. Dein Lebensteppich, auf dem so vieles verwoben ist: Die Menschen, die dich prägen und denen du dich verdankst. Deine Vorfahren, deine Freundinnen und Freunde, deine Lebenslehrerinnen und Vorbilder. Menschen, die dich gesehen, an dich geglaubt, deine Begabungen gefördert haben. Für wen bist du selbst so eine, wo einer? Dann müsste die Seelenlandschaft deiner Kindheit vorkommen, und alle Gegenden auf dieser Erde, die du bereist und lieben gelernt hast. Wo du weißt, wie man „Hallo“ sagt und danke und vielleicht auch „Ich liebe dich“. Te iubesc. Je t’aime. Das hast du vielleicht mal gebraucht. Auch wo du jetzt lebst und webst und anknüpfst an die Lebensfäden anderer.

Der Tempelvorhang soll ein Abbild des ganzen Kosmos gewesen sein.

Der ganze Kosmos. Das ist der Bezugsrahmen auch für mein Leben. Und ich wünsche mir, es möge mir und allen anderen Alltagsmenschen gelingen, wofür ein altes Marienlob aus Konstantinopel die junge Maria lobt:

Den roten Faden spinnend wird sie Unversöhnliches versöhnen.

Sie wird in sich sogar Himmel und Erde verbinden.

In ihr sei der Gottheit ein Kleid gewebt.

 

Es gilt das gesprochene Wort. 

04.08.2021
Melitta Müller-Hansen