Kein Verstehen

Wort zum Tage
Kein Verstehen
27.01.2021 - 06:20
21.01.2021
Ulrike Greim
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Das Bild vom Schneemann. Lustig mit Möhren-Nase und Hut. Ramon hat es gepostet. Seine Töchter haben ihn vor dem Haus gebaut. Schnee in Weimar.

 

Katja postet ein Bild vom nadelnden Weihnachtsbaum. Und dass er nun wirklich langsam vors Haus gehört.

 

Dann: Das Bild eines süßen kleinen Babys in schwarz-weiß. Das tschechische jüdische Mädchen Věra Rotterová, 1942 geboren. 1944 wird sie vom Ghetto Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und in einer Gaskammer ermordet.

 

Ich scrolle weiter.

 

Bilder, nette Videos. Karikaturen in meiner Zeitleiste.

 

Alphabet postet: Es ist Zeit, für die Freiheit der Kunst einzustehen.

 

Und Guido postet etwas über eine Frau, die den Maler Edvard Munch liebt.

 

Dann wieder ein Bruch: Ein ernster Mann, erschreckt guckend. Von vorn, von links, von rechts. Franciszek Orniewski wurde in Lublin geboren, steht darunter. Ein Gebäudetechniker. 1942 nach Auschwitz deportiert. Er starb im Januar 1943 im Camp.

 

Immer facebook-Posts, die die Routine stören. Die Gedenkstätte Auschwitz macht es. All die Abgebildeten haben Geburtstag. Es sind Geburtstags-Posts. Genauer gesagt: Diese Menschen hätten Geburtstag, wenn sie nicht ermordet worden wären. Jeden Tag sehe ich diese Posts. Ich habe sie abonniert.

Weil ich sie sehen will.

Weil ich verstehen will, was passiert ist. Und weil ich nur eine Chance dazu habe, wenn ich die Gesichter sehe. Den einzelnen Menschen.

Es sind keine Zahlen, soundsoviele Millionen. Es sind Menschen. Babys, Frauen, junge Männer. Landarbeiter, Professoren, Musikerinnen.

Ausgelöscht.

Es sind Menschen wie meine Großeltern. Wie du und ich. Keine anonyme Masse.

Der kleine Lockenkopf mit Stupsnase zum Beispiel. Schwarzweiß-Bild, etwas zerknittert. Der polnische jüdische Junge Aleksander Kleinman wurde in Będzin geboren, im Sommer 1942 oder 1944 aus dem Ghetto nach Auschwitz deportiert. Er wurde in einer Gaskammer in Auschwitz II-Birkenau ermordet.

 „Möge sein großer Name für immer gesegnet werden, für immer und ewig.“ So lerne ich es von den jüdischen Geschwistern. Beten als einzige Option, damit umzugehen.

 

Es gibt keine Antwort. Nur ich kann mein Leben als Antwort geben auf das Wenige, das ich verstehe. Und das ist: unbedingte Solidarität mit allem, was lebt.

Und das Gebet.

Gott ist groß. Er möge uns Frieden geben, uns erlösen. Er möge aus dem Tode erretten, die uns vorausgegangen sind.

Sie erlösen und erretten – in sein ewiges Reich hinein, in dem es kein Böses mehr gibt, keinen Tod, keinen Schmerz, keinen Schrei. Nur seinen Frieden.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

21.01.2021
Ulrike Greim