Wie die Träumenden

Wort zum Tage
Wie die Träumenden
(Psalm 126)
19.04.2021 - 06:20
15.04.2021
Angelika Scholte-Reh
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„Wir werden sein wie die Träumenden.“ 
Wie immer hole ich vor dem Gottesdienst in einem der Nachbardörfer Frau Schmidt vor ihrer Haustür ab. Seit fast dreißig Jahren begleitet die inzwischen hochbetagte Frau den Gesang der Gemeinde an der Orgel. Als sie aus der Haustür tritt, umarmt sie mich spontan. „Ich darf das jetzt!“ Vor einigen Tagen wurde sie zum zweiten Mal geimpft. Erst erschrecke ich. Soviel Nähe? Ist das nicht gefährlich? Dann atme ich aus. Auch ich habe vor einigen Wochen meine erste Impfung gegen den Corona-Virus bekommen und mich morgens getestet. Kalkuliertes Risiko. Meine Schultern entspannen sich. Ich erwidere die Umarmung. „Wir dürfen das heu-te!“ Nähe, Menschenwärme, ein Lächeln. Gemeinsam steigen wir in das Auto. In unserem Landkreis haben seit der Adventszeit keine Präsenz-Gottesdienste stattgefunden. Für Frau Schmidt war das eine schwere Zeit. Musik gibt ihr Kraft und das Üben für die Gottesdienste hält ihren Geist beweglich. Mit viel Abstand zu den anderen spielt sie die Orgel und ich singe für die Gemeinde. Die Musik trägt uns und der Funke springt über, von ihr zu mir zu den an-deren. 
Ein Blick über den Horizont. 
„Wir werden sein wie die Träumenden.“
So beginnt der 126. Psalm, geschrieben vor zweieinhalb Jahrtausenden in einer schweren Zeit. Alles scheint verloren und alle Hoffnung sinnlos. Menschen vom Volk Israel sind gefangen im fremden Land. Ihre Heimat ist weit weg und zerstört. Da dichtet jemand ein Lied voller Hoff-nung: „Wir werden sein wie in einem Traum, wenn der Herr das Schicksal Zions zum Guten wendet: Da füllt Lachen unseren Mund, und Jubel löst uns die Zunge.“ 
Er vergleicht dann die zähe, mutlose Zeit, in der die Perspektiven noch nicht zu sehen und die Veränderung noch nicht zu spüren ist, mit der Zeit der Aussaat im Frühjahr. Die Menschen gehen und weinen, sie haben ihr letztes Korn zusammengekratzt, um es auszusäen. Ob es aufgeht? Das können sie nur hoffen und das Bild malen: „Wer unter Tränen mit der Saat be-ginnt, wird unter Jubel die Ernte einbringen.“  
Ja, so wird es wieder werden, wenn mit dem Sommer die Zeit der Ernte kommt und die Ent-behrungen hinter uns liegen: Wir werden wieder lachen und uns berühren, miteinander singen und feiern und das Leben genießen. So wird es sein. „Wir werden sein wie die Träumenden.“
Als wollte sie uns in unserer fröhlichen Hoffnung bestätigen, taucht an jenem Morgen die Son-ne in der Kirche alles in helles Frühlingslicht.
 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

15.04.2021
Angelika Scholte-Reh