„Pas haïr - Nicht hassen"

„Pas haïr - Nicht hassen"
Das Wort zum Sonntag von Pfarrer Gereon Alter
21.11.2015 - 23:35

Erst Paris, dann Mali, Brüssel. Schrecken und Verunsicherung scheinen kein Ende zu nehmen. Und niemand weiß, wo das noch hinführen wird. Mir macht diese Entwicklung Angst. Und sie macht mich wütend. Allein der Gedanke an die Attentäter lässt mich regelrecht aggressiv werden.

 

Umso größer mein Erstaunen, als ich auf diesen Brief gestoßen bin. „Wow!“, war meine erste Reaktion. „Was für eine Größe! Was für eine Stärke! Ich könnte das so nicht.“ Es ist der Brief eines 35-jährigen Mannes, der bei den Anschlägen von Paris seine Frau verloren hat – Antoine Leiris.

 

Seine Frau war gerade mal 30. Bildhübsch, erfolgreich. Mutter eines 17 Monate alten Jungen. Die Attentäter haben sie kaltblütig niedergeschossen. Jeder, aber auch jeder hätte es verstanden, wenn Leiris auf diese brutale Greueltat mit Hass und Zorn reagiert hätte. Aber er findet einen anderen Weg, mit seiner Ohnmacht umzugehen. Er schreibt den Mördern einen offenen Brief. Darin heißt es:

 

„Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr euch sehr darum bemüht habt; denn auf den Hass mit Wut zu antworten würde bedeuten, derselben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid.“

 

Mich beeindruckt das. Dass einer, der aufs Brutalste verletzt worden ist, die Kraft findet, sich nicht zu Hass und Zorn hinreißen zu lassen. Dass er es schafft, sich nicht in den Teufelskreis von Gewalt und blinder Gegengewalt hineinziehen zu lassen. Denn dieser Teufelskreis – das wissen wir – führt nur noch zu viel größerem Leid.

 

Was gibt Leiris die Kraft dazu? Woher hat er diese innere Freiheit? – Auch das verrät er in seinem Brief. Das erste und vielleicht wichtigste: Er verdrängt und leugnet seinen Schmerz nicht. Er gibt zu, dass er verwundet ist. „Selbstverständlich frisst mich der Kummer auf“, schreibt er, „diesen kleinen Sieg gestehe ich euch zu.“ – Das erinnert mich an die alte Weisheit, dass nur der Schmerz eine Chance auf Heilung hat, der nicht verdrängt wird.

 

Und die zweite Kraftquelle: „Ich weiß, dass meine Frau uns jeden Tag begleiten wird und dass wir uns in jenem Paradies der freien Seelen wiedersehen werden, zu dem ihr niemals Zutritt erhalten werdet.“ – Ich weiß nicht, ob Leiris ein gläubiger Mensch ist, ob er Christ ist oder einer anderen Religion angehört. Aber er scheint eine Kraftquelle zu haben, die jenseits dessen liegt, was hier und jetzt zu greifen ist.

 

Die Attentäter haben ihm seine Frau genommen, aber sie haben ihm nicht die Liebe zu ihr genommen. Und sie haben ihm offenbar auch nicht die Hoffnung genommen, dass es eine größere Gerechtigkeit gibt als die, die wir Menschen herzustellen vermögen.

 

Ich gestehe, dass ich mich in diesen Tagen schwer tue von Hoffnung und Gerechtigkeit zu sprechen. Aber die Worte von Antoine Leiris erinnern mich wieder daran, dass Hass und blinde Gegengewalt nicht das letzte Wort haben müssen.