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Heute um 10 Uhr werde ich mich mit Freundinnen und Freunden aus Berlin auf dem kleinen Dorfbahnhof von Pillgram treffen. Gut zwei Stunden werden wir durch den Stadtforst von Frankfurt (Oder) bis nach Rosengarten wandern. Dann feiern wir einen kleinen Gottesdienst und genießen „Pas-cha“, die russische Osterspeise. Mit dieser Tradition am Ostermontag erinnern wir an die biblische Emmausgeschichte. Der kleine Ort Emmaus liegt elfeinhalb Kilometer von Jerusalem entfernt. Auf dieser Strecke, so wird erzählt, begegnen zwei Jünger dem auferstandenen Jesus. Eine geheimnisvolle Geschichte, sie laufen neben ihm her, ohne ihn zu erkennen. In kurzen Abschnitten werden wir uns diese Ostererzählung an vier Stationen vorlesen, werden versuchen sie zu entschlüsseln und mit unseren Lebenserfahrungen verbinden. Ich möchte Sie einladen, meinen Assoziationen in der nächsten halben Stunde zu folgen. Die Musik, die Sie hören werden, sind Teile der Byzantinischen Osterliturgie in deutscher Sprache.
Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. Und es geschah, als sie so redeten und sich miteinander besprachen, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten.
Man fragt sich, warum erkennen die Gefährten ihren Meister nicht. Hat er sich so verändert, ist er ein ganz anderer geworden mit der Auferstehung? Ganz so glatt und geradlinig, wie sich viele Christen die Auferstehung vorstellen, scheint es nicht zu sein. Da ist einer gestorben und nach drei Tagen ist er wieder da. So also nicht. Wie aber dann? Was kann mir dieser Abschnitt sagen. Zunächst einmal dies: Ich rechne mit dem, was ich erwarte, was mir zumindest als wahrscheinlich erscheint. Passiert etwas ganz und gar Unwahrscheinliches, so gibt es erst mal eine Sperre in meinem Kopf. Vor ein paar Jahren wollte ich mir einen neuen Computer kaufen und sah mich wieder in dem Laden um, in dem ich auch das Vorgängermodell gekauft hatte. Statt meines Verkäufers bediente mich diesmal eine Frau. Zuhause angekommen gab es noch ein paar Fragen und am Telefon meldete sich mein alter Verkäufer. Als ich ihn auf seine Kollegin ansprach, eröffnete sie mir, dass sie selbst der Kollege von damals sei, nun nicht mehr ein Mann, sondern eine Frau. Beide mussten wir lachen über meine Blindheit. Ich war nur bereit zu sehen, was ich erwartete, alles andere ging unter in Routine und Geschäftigkeit. Wir trafen uns, und sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte. Ich war tief berührt. Für sie war die Entscheidung, sich zu ihrem Frausein zu bekennen wie eine zweite Geburt. Ich finde, man kann es auch Auferstehung nennen.
Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Taten und Worten vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, daß dies geschehen ist. Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. Und einige von uns gingen hin zum Grab und fanden's so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht.
Die Jünger trauern. Auch das ein Grund, die Welt wie durch einen Schleier zu sehen. Doch immerhin, da ist einer bei ihnen, der nachfragt, der sie ermutigt zu erzählen. Und das tun seine Begleiter. Sie erzählen eine Geschichte, die sie selbst nicht recht verstehen. Erschrocken sind sie über das was sie gehört haben. Jesus soll leben, so erzählen die Leute. Engel sind im Spiel. Was feststeht: Das Grab ist leer! Was bleibt, ist die Erinnerung: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.“ Ist ihr Traum zerplatzt?, sie wissen es nicht. Immerhin, diesen Raum schafft ihnen ihr Begleiter, sie können ihre Geschichte erzählen, so wie sie sie erlebt haben. Er unterbricht sie nicht, lässt Ungereimtheiten stehen, nimmt sich selbst zurück.
Das habe ich lernen müssen bei meinen Einsätzen als Notfallseelsorger: Es ist wichtig zuzuhören, zu akzeptieren und erst einmal zu schweigen. Korrekturen sind unangebracht, Widersprüche müssen ausgehalten, brauchen nicht aufgeklärt zu werden. Erinnerungen können täuschen, Zusammenhänge dürfen ignoriert werden. Es kommt nicht auf die äußeren Abläufe an.
Es gibt eine innere Wahrheit für die Trauernden und der wollen sie mit ihren Erzählungen auf die Spur kommen. So habe ich es immer wieder erfahren. Dabei kann ein Begleiter, eine Begleiterin behilflich sein. Am besten dadurch, dass man selbst wenig einbringt an Ideen und Interpretationen, stattdessen dicht bei den Trauernden, bei ihren Worten und Aussagen bleibt. „Ich weiß jetzt gar nicht mehr weiter,“ sagt jemand zu mir, der gerade seine alte Mutter verloren hat und der sich selbst erst einmal sortieren muss. Ich frage: „Was genau musst du jetzt wissen, damit du weiter weißt?“ „Das ist eine gute Frage,“ bekomme ich zur Antwort und nach kurzem Nachdenken erfahre ich, dass da noch Angehörige sind, die unbedingt informiert werden müssen und dass das sehr schwer werden wird. Ich schlage vor, dass ich mich darum kümmern kann. „Ja, das ist gut.“ Diese Last ist erst einmal von den Schultern genommen.
Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.
Und nun die Wende. Jesus beginnt zu predigen. Jetzt endlich sollten ihnen die Augen doch aufgehen. Aber genau das passiert nicht. Die beiden trotten weiter neben ihm her, bleiben gefangen, sind traurig, blind und taub.
In einer Seelsorgeprüfung wäre Jesus mit dieser Intervention wohl durchgefallen.
Für mich aber ist dieser Abschnitt der Ostergeschichte außerordentlich tröstlich. Über dreißig Jahre habe ich als Pfarrer gearbeitet. Mit dem Versuch nachzuzählen, wie viele Trauergespräche ich in diesen Jahren geführt habe, bin ich gescheitert. Aber ich kann mich an so einige Situationen erinnern, die mich absolut hilflos zurück ließen. Ich spürte, man erwartet von mir, dass ich helfen kann, aber ich erreiche die Trauernden nicht, ich scheitere. Ich vermag nicht zu helfen, zu trösten, zu erklären. Natürlich kann es an meiner Ungeschicklichkeit gelegen haben, vielleicht aber hatte ich in dieser Situation auch gar keine Chance, den Panzer der Trauer zu durchdringen.
In solchen Situationen hat mich das Scheitern Jesu getröstet. Auch er lief neben seinen trauernden Freunden her und konnte sie mit seinen Worten nicht erreichen. Der Prediger schlechthin kam mit seiner Rede nicht an. Ja, es gibt Situationen da versagen die Worte. Sie können schlüssig sein, sie können gut formuliert sein, sie können das göttliche Wort selber sein und sie werden dennoch nicht gehört. Es ist nicht leicht für Menschen, die so auf das Wort fixiert sind wie evangelische Pastoren, zu akzeptieren, dass auch für Worte gilt, dass sie ihre Zeit und ihren Ort brauchen, um gehört werden zu können. Das gilt es zu respektieren. Jesus im Scheitern an meiner Seite zu wissen, mag eine etwas anmaßende Auslegung sein. Mir hilft sie, mich in meiner Hilflosigkeit nicht so allein zu fühlen.
Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach's und gab's ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen.
Wenn es nicht die Worte sind, die Erkenntnis bringen, was dann? Die Geschichte der Emmausjünger zeigt einen Ausweg. Als das Gespräch irgendwann zum Ende kommt, beginnt etwas Neues, etwas ganz Anderes. „Genug geredet,“ hätte man in die Geschichte einschieben können, „lasst uns ins Haus gehen. Fremder, sei unser Gast. Lass uns etwas essen.“ Eine meiner ersten Anschaffungen im Pfarrbüro war eine kleine Kaffeemaschine. Sie stand direkt neben der Sitzgruppe. Eine Karaffe stand bereit und ich musste ein paar Handgriffe machen, um die kleine italienische Espressokanne mit Kaffee und Wasser zu befüllen, dann kam sie auf die passende Kochplatte und ein paar Minuten später war der Espresso fertig. Diese Minuten habe ich schätzen und einsetzen gelernt. Kein peinliches Schweigen in einer schwierigen Gesprächsphase, sondern ein Augenblick des Innehaltens. Beratungsgespräche mit Jugendlichen habe ich gern am Billardtisch geführt. Auch da gab es immer diese wunderbare Möglichkeit, einfach nur zu schweigen. Das Wesentliche passiert ja oft wie nebenbei. Mal ist es ein Traum, der einem etwas klar werden lässt oder die sprichwörtliche Idee unter der Dusche, mal setzt der Klang von Musik etwas in uns frei, oft ist es die Stille.
In der Emmausgeschichte öffnen sich die Augen seiner Freunde, als Jesus ihnen das Brot bricht. Es klingt wie ein Zauber und ist doch eine Alltagserfahrung. Daran, wie Jesus das Brot bricht, erkennen die Jünger ihren Meister. Und wer die Ostergeschichte kennt, ist an dieser Stelle an Jesu letztes Abendmahl erinnert: „Sooft ihr von diesem Brote esst bin ich mitten unter euch.“ Wie kann Jesus sich präsenter machen, als dass er sich und sein Leben, seine Liebesbotschaft mit dem gemeinsamen Essen verbindet. Täglich muss man essen, um zu leben. So hält man Verbindung mit ihm, jeden Tag. Plötzlich ist der da, von dem sie nur gehört hatten, dass er lebt. Plötzlich erkennen sie Jesus in dem Mann, neben dem sie über viele Kilometer her getrottet sind. Mit dem gemeinsamen Mahl ist die erkaltete Hoffnung vom Erlöser, der am Kreuz starb, zu einer Aufbruchsgeschichte geworden. Mit seinem Tod ist kein Schlussstrich gezogen, etwas Neues hat begonnen. Und Sie erkannten ihn. Doch er verschwand vor ihren Augen.
Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen. Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, als er das Brot brach.
Ein einfaches „weiter so“ gibt es offenbar nicht. Jesus entzieht sich ihrem Zugriff. Und doch sind die Jünger verwandelt. Eine Gemeinschaft, die dabei war auseinander zu laufen, findet wieder zusammen. Sie alle treten aus der Einsamkeit der Trauer heraus ins Leben.
Ich erinnere mich an einen Hausbesuch. Ich saß bei einer Frau, die im hohen Alter ihren Mann verloren hatte und plötzlich allein war. Ihr wichtigster Bezugspunkt im Leben war nicht mehr da. Alle guten Worte blieben mir im Halse stecken, so nachfühlbar schrecklich war die Situation. Mir fiel nichts ein, was sie hätte trösten können; und so hörte ich der alten Frau einfach nur zu. Ausführlich erzählte sie vom ersten Kennenlernen und vom Widerstand der Eltern gegen diese Liebe. Der Mann war ihnen nicht gut genug. Ein kleiner Beamter schien ihrer Akademikerfamilie nicht standesgemäß. Doch bald schon gaben sie ihren Widerstand auf. Bereits zur Verlobung schwenkte die Familie um, und man merkt nach Jahrzehnten noch, wie wichtig der Frau diese Versöhnung war. „Das Wort Emanzipation gab es zu meiner Zeit noch nicht“, sagt sie, „aber wir haben alles gemeinsam gemacht. Er war nicht mehr wert als ich. Jeder hatte seine Aufgaben und am wohlsten fühlten wir uns, wenn wir uns sehen konnten.“ Eine Reise ohne ihn hätte ihr keinen Spaß gemacht. Jetzt, wo sie unwiderruflich allein ist – jetzt wird ihr alles doppelt schwer. Plötzlich wurde diese erschütternde Klage durch ein Klingelläuten unterbrochen und die Enkelin der alten Frau stand mit der kleinen Tochter vor der Tür. Die Kleine wusste nichts von dem Leid der Urgroßmutter. Sie freute sich einfach nur, die Uroma zu sehen und fiel ihr ungestüm um den Hals. Ich bin mir sicher – meine Trostworte hätten die Frau nicht erreichen können, diesem Kind aber, mit seiner unverfälschten Lebensfreude, mit ihrer ehrlichen Zuneigung konnte sie sich nicht entziehen. Durch diese unbeschwerten Augenblicke merkte sie, dass es neben dem Schmerz und der Trauer noch anderes gab, was mit noch so klugen Reden nicht zu bekommen war, aber mit dem Lachen und der Umarmung dieses Kindes.
Das Osterwunder kann einem überall begegnen, es genügt, mit offenen Augen auf die Suche zu gehen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
Byzantinische Osterliturgie in deutscher Sprache. Chorodia der Benediktinerabtei Niederaltaich, Mitglieder der Schola Cantorum St. Godehard, Hannover, Gesamleitung Archimandrit Irenäus Totzke