Moby Dick: Buch und Botschaft

Morgenandacht

Mikolaj / Unsplash

Moby Dick: Buch und Botschaft
14.09.2021 - 06:35
09.09.2021
Oliver Vorwald
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Moby Dick. Die Jagd nach dem weißen Wal. Meine Abendlektüre jetzt im September. Lesend gehe ich an Bord der Pequod, klettere mit dem Erzähler Ismael hinauf in die Masten, verliere mich mit ihm in die Unendlichkeit und Schönheit des Ozeans. Der 600 Seiten starke Roman ist eines dieser Bücher, das man nie wirklich ausgelesen hat. Je mehr ich lese, umso tiefer wird die Geschichte. Religiös aufgeladen, voller Anspielungen auf die Bibel, unergründlich wie der Ozean. Moby Dick erscheint vor 170 Jahren, im Herbst 1851 in London und New York („The Whale“). Ohne großen Nachhall, was den Autor Herman Melville beinahe zerreißt. Erst im 20. Jahrhundert entfaltet der Roman seinen Rausch. Das dramatische Meisterwerk endet in einer Katastrophe: Kapitän Ahab vergiftet mit seiner Rache die Herzen. Blind folgt ihm die Mannschaft ins Verderben. Moby Dick rammt das Walfangschiff, reißt alle in die Tiefe. Bis auf einen, ihn, den Erzähler Ismael. Doch der Reihe nach.

 

Bei meinem ersten Anlauf durch Moby Dick bin ich stecken geblieben. Warum, kann ich gar nicht mehr sagen. Wahrscheinlich, weil die Story eine Weile braucht, um in Gang zu kommen. Und auch dann nimmt Herman Melville immer wieder das Tempo heraus, unterbricht die Handlung. Da ist ein seitenlanger Katalog über die verschiedenen Arten und Gattungen der Wale, da sind Ausführungen zur Kunstgeschichte, zur Philosophie, zur Theologie. Dann wieder wird aus der Erzählung ein Drama im Stil eines William Shakespeare. Seitenlange Dialoge und Selbstgespräche illustrieren Denken und Fühlen der Seeleute.

Besonders bemerkenswert an Moby Dick finde ich die Nähe zur Bibel. Ganz am Beginn des Romans stehen Zitate über „Walfische“ aus dem ersten Mosebuch oder den Psalmen. Und Herman Melville webt die Jona-Geschichte hinein, das Leiden Hiobs. Damit nicht genug. Alle Hauptfiguren tragen biblische Namen. Der Erzähler Ismael ist nach dem ersten Sohn Abrahams benannt. Und natürlich Ahab, der Kapitän. Er trägt den Namen eines verfluchten Königs im alten Israel. Außerdem schildert Herman Melville alle Arbeiten auf einem Walfänger des 19. Jahrhunderts. Und zwar so genau, dass sie einem deutlich vor Augen stehen. Das Schiff mit Aufbauten, Takelage, die Segeltypen. Dazu die Waljagd in den kleinen mit Tuch bespannten Booten, der Todeskampf der Tiere, das Zerlegen des Wals auf hoher See, das Abziehen der Speckflanken, das Auskochen und Abfüllen des Öls. Ein Sittengemälde des 19. Jahrhunderts. Letztlich erzählt Herman Melville, wie seine Zeitgenossen das Meer industriell ausbeuten für Öl, Tran und Fett, wie dadurch manche Walarten ausgerottet werden. Einige verstehen Moby Dick als Parabel auf die damalige amerikanische Gesellschaft. Ihr Streben nach Größe, Macht und Herrschaft. Dabei geht es – glaube ich – um die Menschheit an sich. Denn unter Kapitän Ahab dienen Männer aus beinahe allen Nationen und Völkern dieser Erde.

 

Aber wen oder was jagen Ahab und seine Mannschaft? Wofür steht der weiße Wal? Die übermächtige Natur, ein alles verneinendes Nichts oder ist der Wal Gottes Werkzeug, um menschlichen Hochmut zu strafen? In dieser Offenheit liegt die Größe des literarischen Werks und seine Tiefe. Moby Dick ist eines der Bücher, man nie ausgelesen haben wird. Ein Buch wie die Bibel.

 

Es führt vor Augen, wie Menschen durch alle Zeiten hindurch – biblisch gesprochen – die Sünde Babels wiederholen, dass sie immer wieder sein wollen wie Gott, glauben über alles herrschen zu können: Die Vögel am Himmel, alles Getier, die Fische im Meer (1. Mo 1,28). Moby Dick ist damit tatsächlich ein Buch für heute. Es erzählt von einer Gesellschaft, die den Respekt vor der Natur verloren hat – ihrer Kraft, ihrer Schönheit, ihrer verwundbaren Seele. Und das rächt sich. Zuletzt reißt der weiße Wal alle in die Tiefe.

 

Nur einer überlebt, Ismael, der Erzähler. Der Roman schließt, wie er begonnen hat. Mit einem Zitat aus der Bibel, Hiob. Fromme Mahnung für seine Leserinnen und Leser und die folgenden Generationen: „…ich bin allein entronnen, dass ich dir’s ansagte“ (Moby Dick, 570 – Hiob 1,16).

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 
09.09.2021
Oliver Vorwald