All das Leid. Warum, Gott? - 14.03.2011
Gott schickt keine Katastrophen
14.03.2011 05:23

„Ich sehe meine Mutter vor mir stehen;

ihrem Gesicht entschwindet das Lächeln

beim Klang dieses Wortes – ‚Tschernobyl’“.1
 

Tschernobyl – die Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 ist zum Synonym für den Super-GAU geworden. Und nun droht er einen neuen Namen zu bekommen: Fukushima. In Japan wurde der atomare Notfall ausgerufen. Menschen in der Nähe von Fukushima wurden verstrahlt. Ein Massenexodus hat begonnen. Durch die Trümmer, über zerstörte Straßen. Dazu die apokalyptischen Bilder der letzten Tage von Seebeben, Flutwellen und Bränden, Ruinen und Chaos. Menschen und das, was sie geschaffen haben, werden zum Spielball der Naturgewalten.

Die Menschen in Japan haben sich mit Intelligenz und Technologie dagegen zu schützen versucht. Das Risiko, in dieser Region Atomkraftwerke zu betreiben, die ihre Energieversorgung sichern, sind sie eingegangen. Hochgradig geschützt. Und nun bleibt nur noch, den Tod zu beklagen. Den Tod der Ertrunkenen, der Verbrannten, der Erschlagenen und der Verstrahlten. Der Tod – er bleibt der Skandal allen Lebens.

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,2 und Markus 15,34; Matthäus 27,46)
So betet ein Mensch vor tausenden von Jahren, so betet Jesus am Kreuz. So schreit er nach Gott. Alle Menschen, die diesen Psalm Jahrhunderte lang nachsprachen, zeichneten in diese Worte ihre eigenen Erfahrungen von Zerbrechen und Sinnlosigkeit ein. Was bleibt, das ist dieser letzte Schrei: Warum? Immer wieder. Beim Warten auf dem Dach in der nächtlichen Kälte, wenn die Flut höher steigt, bei dem Reaktorunfall, wenn ich der Strahlung hilflos ausgeliefert bin.
Durch das Fernsehen und Internet trifft mich die Wucht der Bilder unmittelbar. Und ich spüre: Das Leben ist kostbar. Zerbrechlich. Es braucht Schutz. Der menschliche Machbarkeitswahn bekommt einen Dämpfer.
Es ist Karfreitag in der Welt. Das Warum lässt sich nicht auflösen in Erklärungen. Das ist biblisch gesprochen ein Zustand äußerster Gottesferne und starker Glaubenszweifel. Gott, wo bist du? Gott ist da. Gerade in dieser Frage – wo bist du? Gott ist da – mitten in meinen Zweifeln, in meiner Wut. Gott selbst hängt am Kreuz, liegt unter den Opfern, wird begraben. Gott schickt keine Katastrophen. Gott ist da, bei den Frauen, die seinen Leichnam suchen und ihn salben wollen. Bei den Frauen, die sich nicht lähmen lassen von den grausamen Folterern Jesu. Gott ist in mir, wenn ich mich nicht lähmen lasse von den Karfreitagsszenen, sondern meine Lehren daraus ziehe. Wenn mir die Ereignisse von Tschernobyl und Fukushima die Augen öffnen und ich nicht nachlasse, sie in die energiepolitischen Diskussionen einzubringen. Wenn ich für die Menschen in Japan bete: Gott, erhalte ihnen ihre innere Stärke, trotz aller Schäden an Leib und Seele. Setze uns in Bewegung, dass wir helfen wo wir gebraucht werden – überall auf der Welt.

 

1 Schuchardt, Erika und Lew Kopelew:
Die Stimmen der Kinder von Tschernobyl. Geschichte einer stillen Revolution.
Herder-Spektrum-TB 1996. 189 S., S. 54.