Gemeinfrei via Unsplash/ Andreas Kretschmer
Ein Weihnachtsbaum für Kiew
Gedanken zur Woche von Pastor Matthias Viertel
23.12.2022 05:35
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In diesem Jahr hatte ich mich gar nicht getraut: die Lichterkette wie gewohnt auf den Balkon zu hängen, um die dunklen Tage des Advent zu erhellen. Das Licht der kleinen Kerzen und Sterne ist zwar wunderschön und für die vorweihnachtliche Stimmung eigentlich unersetzlich: Aber das kostet ja alles Energie. Und wenn Menschen sogar Angst haben, ihre Wohnungen im Winter nicht mehr heizen zu können – da schien es mir irgendwie unverantwortlich, Strom für die Weihnachtsbeleuchtung zu vergeuden. Ich weiß, der Verzicht auf Weihnachtsschmuck im öffentlichen Raum ist mehr ein symbolischer Akt, so richtig viel Strom kann man damit kaum sparen, aber auch solche Gesten sind doch wichtig. Sie deuten zumindest die Sorgen an, die man sich auch für andere Menschen nun macht.

Dann las ich eine Nachricht, die mein Zögern in einem neuen Licht erscheinen lässt: In Kiew wurde in dieser Woche ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Mitten im Krieg, mitten in der Stadt, vor der Sophienkathedrale, dieser besonderen Kirche, die seit dem 11. Jahrhundert als Zentrum der ukrainischen Christen gilt. Keine prächtigen Girlanden schmücken den Baum in diesem Jahr, die bunten Buden eines Weihnachtsmarktes fehlen. Stattdessen gibt es auf dem Platz vor der Kirche nur diesen Weihnachtsbaum, geschmückt mit weißen Friedenstauben und Lichtern. Die werden von einem Generator mit Strom versorgt, wegen der ständigen Stromausfälle durch die russischen Angriffe auf die Energieanlagen.

Trotz Kälte und Angst vor Luftalarm kommen Menschen, auch Familien mit Kindern, und bestaunen den Baum. Er ist kleiner als sonst. Aber er leuchtet. Und Bürgermeister Vitali Klitschko betont: man will sich das Weihnachtsfest nicht nehmen lassen. Natürlich bringt der Krieg ganz andere Sorgen mit sich: die andauernden Angriffe; ständig fallen Strom und damit auch Trinkwasser und Heizung aus. Und doch, gerade deshalb darf die Hoffnung, die von dem Weihnachtslicht ausgeht, jetzt nicht fehlen.

Für mich ist der Weihnachtsbaum in Kiew in diesem Jahr wohl der wichtigste überhaupt. Er steht da in seiner verhaltenen Pracht, fast trotzig, und gibt zu verstehen: Weihnachten ist das Fest des Friedens und der Liebe und der Hoffnung. Wenn das in irgendeiner Weise noch zählen soll, dann gerade jetzt im Krieg; dann gerade für diejenigen, die in ihren Wohnungen frieren und im Dunkeln sitzen. Da zählt jedes Licht, das Hoffnung gleich doppelt schenkt.

Dass der Baum in Kiew erst in dieser Woche aufgestellt wurde, hat einen Grund. Die orthodoxe Kirche feiert Weihnachten erst am 7. Januar. Für sie hat jetzt gerade die Adventszeit begonnen. Bei uns feiern wir schon Morgen den Heiligen Abend, die Menschen in der Ukraine haben eine ganze Etappe des Wartens noch vor sich. Eine Zeit, in der die Lichter am Baum vor der Sophienkirche vielleicht die einzigen in der Stadt sind, auch wenn dieses Hoffnungslicht von einem Generator mühevoll am Leben erhalten werden muss.

Dass die Menschen in Kiew ihrem Weihnachtsbaum den Namen „Baum der Unbesiegbarkeit“ gegeben haben, das kann ich gut verstehen. Ebenso die Farben der Lichterkette, die in Gelb und Blau erstrahlt. Aber wer wollte diesen Patriotismus bemängeln. Ich kann mich jedenfalls damit arrangieren, denn der Weihnachtsbaum steht als Symbol eigentlich doch immer genau dafür: Das Licht, das von Christi Geburt in Bethlehem ausgeht, vermittelt eine Hoffnung, die unbesiegbar bleibt. König Herodes konnte es damals nicht auslöschen, und auch alle anderen Despoten dieser Welt werden es nicht schaffen, den Funken der Hoffnung auf Liebe und Gerechtigkeit, auf ein Leben in Frieden und Freiheit zu löschen.

Nachdem ich den Weihnachtsbaum in Kiew gesehen habe, überlege ich mir nun: Vielleicht hänge ich meine Lichterkette doch noch auf, sie kann ja bis zum 7. Januar dort bleiben und darauf warten, dass auch in Kiew Weihnachten wird.

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Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

  1. https://www.abendblatt.de/politik/article237194687/ukraine-weihnachten-kiew-klitschko-feiern.html
  2. https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.trotz-russischen-angriffen-kiew-stellt-weihnachtsbaum-der-unbesiegbarkeit-auf.ab040d81-fc72-4bc4-a5d3-f168ce017a88.htmlText