Wort zum Tage
Gemeinfrei via Unsplash / Eneko Uruñuela
Der Baum
von Olav Metz
Autor
21.10.2022 06:20
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Kennen sie den "Baum"? – Ich meine jetzt nicht den Kastanienbaum an der Straße oder den Apfelbaum im Garten. Ich meine die Yogaübung: Bei dieser Übung hebe ich die Arme über den Kopf wie eine Baumkrone und dann hebe ich einen Fuß und stehe nur noch auf einem Bein - wie der Baum auf seinem Stamm.

 

Sicher und fest im Leben stehen, (so sicher) wie ein Baum, das ist der Sinn dieser Übung. Klar. Aber das geling mir nicht immer gleich gut. An manchen Tagen habe ich einen ziemlich guten Stand. Aber es gibt auch Tage, an denen ich den zweiten Fuß kaum von der Erde bekomme ohne ins Wackeln und Wanken zu kommen.

 

Wie bekomme ich dann den zweiten Fuß doch noch hoch? – Es gibt einen kleinen Trick, der mir dann hilft: Mit den Augen suche ich mir einen Punkt, das Fensterkreuz, eine Blüte im Vorgarten, das Licht der Straßenlampe. Diesen Punkt fasse ich ganz fest ins Auge; ich fixiere ihn. Dann hebe ich langsam den Fuß - und meistens klappt das dann deutlich besser.

 

Warum erzähle ich davon? Weil ich oft kaum noch merke, von wie vielen sich ständig wandelnden Bildern ich umgeben bin. Sie stürmen auf mich ein. Sie treiben meinen Blick von einem zum anderen. Und genau das ist es, was mich dann ins Schwanken und ins Wanken bringt.

 

Der Fülle der Welt und der Flut der Bilder werde ich natürlich nicht einfach entfliehen können. Aber wenn ich mich darauf konzentriere, nur ein Bild anzuschauen und mich bewusst an ihm festhalte, dann kann sich etwas ändern: Die Unruhe kann weichen und ich kann einen festeren Stand finden, auch wenn das Leben um mich herum genauso turbulent weitergeht wie bisher.

 

Dass das möglich ist, das wusste übrigens schon der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart. Er hat gesagt:

Dass ein Mensch ein ruhiges Leben in Gott hat, ist gut.
Dass ein Mensch ein mühevolles Leben in Geduld erträgt, ist besser.
Dass man aber Ruhe findet im mühevollen Leben, das ist das Beste.

 

Nein, Gott erspart mir nicht die Fülle des Alltags und das Durcheinander im Leben. Aber wenn ich mir in all der Fülle einen festen Punkt suche und ihn im Auge behalte, dann kann ich einen sicheren Stand finden in allem, trotz allem, was mich umgibt.

 

Als Christ glaube ich, dass Gott dieser Punkt ist, der mir den nötigen Halt gibt. Manchmal entdecke ich ihn in einer Blüte, manchmal in der Laterne vorm Haus und manchmal im Baum, der sich im Wind wiegt und dennoch sicher steht. Und dann versuche ich wieder, so zu sein, wie er. Ich schaue ihn ganz fest an und hebe langsam den Fuß…

 

Es gilt das gesprochene Wort.