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Ein Ausflug mit meiner Großmutter Anfang der achtziger Jahre. Wir wollen ins Benediktinerkloster Neresheim. Sie kommt aus dem Ruhrgebiet und ist bei uns in Württemberg an der Ostalb zu Besuch. Meine Großmutter ist eine einfache Frau und in ihrem damals siebzigjährigen Leben nicht sehr viel herumgekommen. Mir selbst gefällt die wunderbare Abteikirche Neresheim von Balthasar Neumann und die will ich ihr zeigen.
Womit ich nicht rechne, als wir die Kirche betreten: Meine Großmutter ist vollkommen erschüttert. Sie hat Tränen in den Augen und stammelt: "Dass es so etwas Schönes gibt!" Dann setzt sie sich in eine Bank, betet, kann sich nicht satt sehen an der Architektur und bewundert den barocken Himmel in der Kuppel. Noch Tage später spricht sie von diesem wunderbaren Erlebnis - auch wenn sie sonst in religiösen Dingen ziemlich wortkarg ist. In dieser Kirche war für sie Gott gegenwärtig.
Das Kirchenbauprogramm des Barock ist bei meiner Großmutter voll aufgegangen. Die Abteikirche in Neresheim besticht durch ihre gewagte Architektur und das größte einteilige Deckenfresko der Welt. Was in Neresheim in überwältigender Perfektion zu bewundern ist, gehört so ähnlich zum Programm jeder barocken Kirche. Sie geben eine Vorstellung vom Himmel als Wohnstätte Gottes und zeigen ihn in aller Pracht. Hier in der Kirche öffnet sich der Himmel, hier ist er bewohnt und Gott ist ganz nah.
Der barocke Kirchenbau hat auf die Spitze getrieben, was Menschen schon immer wollten. Ihrer religiösen Erfahrung einen Ort geben und den Pfad zu Gott eindeutig machen, Gott nah herbeiholen. Schon in der Ur- und Frühgeschichte haben Menschen die Orte, an denen sie spirituelle Erfahrungen gemacht haben, gekennzeichnet und verehrt.
Solche Plätze haben oft bis heute eine besondere spirituelle Aura. Wer Stonehenge in England oder Steinkreise in Schottland besucht, kann das noch tausende Jahre später empfinden. Auch das deutsche Pendant zu Stonehenge, das beeindruckende Ringheiligtum aus Holz in Pömmelte an der Elbe lässt das erahnen.
Aus besonderen Stätten wurden feste Häuser für die Gottheiten: Tempel. Am und im Tempel brachte man der Gottheit Gaben und Opfer dar. Dort war Gott zu finden. Dort konnte man beten, Rat und Weisung bekommen. Und der jeweilige Gott, die verehrte Göttin war in den Tempeln meist als Bildnis zugegen. Das hat sich in den monotheistischen Religionen dann radikal geändert. Ob Judentum, Christentum oder Islam, sie haben begriffen, dass sich ein universaler Gott und ein Tempel nicht so einfach vertragen. Gott in ein Abbild zu pressen, geht nicht so einfach.
Natürlich hatten die Israeliten seit der Zeit von König Salomo einen Tempel in Jerusalem. Und bis heute ist der Berg Zion, der Tempelberg der heiligste Ort im Judentum, auch wenn vom Tempel nur noch die westliche Stützmauer steht, die im Deutschen leider Klagemauer heißt. Auch wenn es viel zu klagen gibt: Wer je dort war, weiß, dass dort manchmal auch geklagt, vor allem aber still gebetet und oft auch gejubelt und gefeiert wird.
Den ersten Tempel hat König Salomo bauen können, nachdem sein Vater David bereits Jerusalem erobert und die Bundeslade - das ist das mobile Ursprungsheiligtum mit den Gesetzestafeln der zehn Gebote - nachdem also David diese Bundeslade in die neue Hauptstadt gebracht hatte. Doch braucht Gott einen Tempel? Passt er dorthinein? Schon als Salomo den Tempel einweiht, thematisiert er diese Fragen:
"Die Sonne hat der HERR an den Himmel gesetzt. Doch er selbst wollte im Wolkendunkel wohnen. So habe ich nun für dich, HERR, dieses Haus gebaut: Ein würdiger Ort, an dem du für immer wohnen kannst."
Dann drehte sich der König um und segnete alle versammelten Israeliten. Die ganze Versammlung Israels stand auf vor ihm. Und Salomo sprach:
"Sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen? Selbst die unendliche Weite des Himmels kann dich, Gott, nicht fassen! Wie könnte das der Tempel, den ich gebaut habe?
HERR, mein Gott, wende dich deinem Knecht zu, höre sein Gebet und sein Flehen!" (1 Könige 8,12-15.27f BasisBibel)
König Salomo ist sich bewusst: Der Tempel, den er hat bauen lassen, ist zwar ein Haus für Gott. Aber Gott lässt sich darin nicht fassen oder festmachen. Gottes Gegenwart übersteigt alles – sogar den Himmel.
Zudem: Der Tempel wird zerstört. Erstmals von den Babyloniern im 6. Jahrhundert vor Christus. Erst nach Jahrzehnten wird er neu aufgebaut. Und diesen zweiten Tempel legen die Römer dann im Jahr 70 nach Christus in Trümmer. Wenn Gott im Tempel wohnte, wo ist er jetzt? Ist Gott noch Gott, wenn er zulässt, dass sein Haus zerstört wird? In dieser Krise hilft den Jüdinnen und Juden, dass ihr Glaube längst mehr eine Buch- als eine Tempelreligion ist.
So kommen sie seit fast 2000 Jahren ziemlich gut ohne zentrales Gotteshaus zurecht. Denn es zeigte sich, dass man auch ohne Tempel an diesen Gott glauben konnte. Es reichen die heiligen Schriften, Gebete, Lieder und - um gemeinsam zu feiern - Versammlungsorte. Die heißen auf Griechisch "Synagogen", was wörtlich übersetzt nichts anderes bedeutet als Versammlung.
Der eine Gott, an den Juden, Christen und Muslime auf je ihre Weise glauben, ist viel zu groß, um in einem Tempel zu hausen. So wohnte Gott auch im jüdischen Tempel eher symbolisch. Deshalb haben die drei Religionen keine Tempel mehr, sondern Synagogen, Kirchen und Moscheen. Orte, an denen man Stille und Einkehr sucht, Gemeinschaft und Ansprache. Diese Orte haben nicht den Anspruch, Wohnort Gottes zu sein. Die Atmosphäre eines Gebetshauses soll aber helfen, sich zu sammeln, die Alltagssorgen abzulegen, Gott zu finden.
Für die Christinnen und Christen ist bis in die Neuzeit hinein völlig selbstverständlich, dass Gott im Himmel wohnt. Und das meint, dass es ganz selbstverständlich zwei Räume gibt, den sichtbaren und den unsichtbaren Raum, den irdischen und den ewigen. Beide sind real und ineinander verschränkt. Und die Kirchengebäude erzählen genau das und sind dazu da, Zugang zum ewigen, himmlischen Raum zu eröffnen.
Zu Beginn habe ich erzählt, wie meine Großmutter in der Neresheimer Abteikirche zu Tränen gerührt und überwältigt war. Dieser Kirchenraum mit seiner großartigen Gestaltung öffnete für sie eine Ahnung vom Himmel. Viele wundern sich über die zahlreichen Kostbarkeiten in alten Kirchen und kritisieren sie. Und tatsächlich haben Ruhmsucht, Gier und Neid oft den guten Grundgedanken pervertiert. Aber man kann die Schätze in den Kirchen nur verstehen, wenn man sich klarmacht, dass für die Menschen vergangener Jahrhunderte der ewige Raum wertvoller und kostbarer war als der irdische Raum.
Gold und Silber waren ursprünglich nicht allein wegen ihres Marktwertes wichtig. Wichtiger war: Sie sind rein, vermischen sich nicht und glänzen einzigartig. Sie sind sehr, sehr besonders - ebenso wie zum Beispiel das rußfreie Licht aus Bienenwachskerzen. Das Reinste verweist auf die andere Welt, auf den himmlischen Raum. Im Gold und Silber spiegelt sich am ehesten der Glanz der anderen Welt. Der wahre, der göttliche Himmel ist nicht Schönwetterblau, er ist golden!
Nun, das stimmt und stimmt auch nicht. Denn ebenso sieht man auf vielen Altarbildern, dass Blau die göttliche Farbe ist. Wenn da jemand ein blaues Gewand anhat, dann ist es entweder Maria oder Jesus. Blau ist in der Natur selten. So selten, dass es im Alten Testament und auch bei den frühen Griechen gar kein Wort für die Farbe gibt. Und Blau ist auch die göttliche Farbe, weil sowohl das Meer als auch der Himmel blau sind, unendlich und nicht greifbar.
Gold, Silber, Bienenwachskerzen und Blau sind nicht der Himmel, sie symbolisieren ihn. Gott und der Himmel sind nicht verfügbar, nicht einzuholen, aber real. Gott ist fern und doch nah. Einerseits wohnt Gott in einem unzugänglichen Licht, das niemand sehen kann (1. Timotheus 6,16). Andererseits zeigt sich Gott in Jesus, einem greifbaren Menschen, und ist da, wo sich zwei oder drei in seinem Namen versammeln (Matthäus 18,20).
Gott wohnt im Himmel. Und Himmel ist das, was die Menschen umgibt und sich ihnen gleichzeitig entzieht, was "über" ihnen ist. Dieser Himmel, der mit dem sichtbaren Himmel nur zum Teil übereinstimmt, denn das Wesentliche, nämlich Gott, ist ja unsichtbar darin, dieser Himmel ist Gottes Raum. Das galt unbestritten bis in die Neuzeit.
Doch dann entdeckt der Naturphilosoph Isaac Newton, dass der irdische Raum, also der berechenbare dreidimensionale Raum prinzipiell unendlich ist. Zur gleichen Zeit erforscht und berechnet man intensiv den sichtbaren Himmel und kann mit optischen Hilfsmitteln auch immer weiter sehen. Da ist kein Himmelsgewölbe mehr, sondern unendlicher Raum mit ungezählten Planeten und ungeheuerlichen Entfernungen.
Der dreidimensionale Raum ist unendlich, der Himmel ist Teil dieses Raumes und da ist nirgends ein Gott zu entdecken. Gott hat plötzlich keinen Raum mehr, denn er ist in diesem Himmel nicht auffindbar. Und anscheinend gibt es auch keinen Platz für einen anderen Raum. Newton und in seinem Gefolge Generationen von Forschern halten den Raum für absolut. "Daneben" kann es keinen anderen geben. Salopp gesprochen stehen Gott und der Glaube mit dem Rücken zur Wand, wenn es denn eine solche Wand gäbe.
In den letzten beiden Jahrhunderten sucht die Theologie nach Auswegen. Manche meinen, von Gott als einer anderen, weiteren "Dimension" reden zu können. Doch auch das macht die Wissenschaft zunichte. Denn auf der Suche nach der Weltformel entdecken die Physiker, dass der Raum mindestens elf Dimensionen hat und alles, selbst die Zeit eine Dimension dieses Raumes ist.
Die Zeit als vierte Dimension kann man sich noch halbwegs vorstellen. Elf Dimensionen übersteigen das Vorstellungsvermögen. Man kann sie höchstens beschreiben und berechnen. Und von Gott als einer weiteren Dimension zu sprechen, ergibt keinen Sinn. Denn niemand wüsste, was man sich dann unter Gott vorzustellen hätte.
Wenn Gott keinen Raum beanspruchen kann, wo ist er dann? Der Philosoph Immanuel Kant behauptet: Gott ist nur innerlich. Gott ist eine Vorstellung, ein moralisches Gesetz. Er braucht keinen Raum, er ist eine wirksame Idee. Doch auch diese raumlosen Vorstellungen lässt die Wissenschaft nicht in Ruhe: Psychoanalyse und Hirnforschung zerkratzen das Bild, dass Gott ganz innerlich ist.
Hat die Wissenschaft Gott endgültig obdachlos gemacht?
Nun, die Weltformel wurde nicht gefunden und der Raum ist nicht länger totalitär. Denn es gibt das Internet, den virtuellen Raum. Das klingt verblüffend, aber seit es das Internet gibt, hat sich die Diskussionslage verändert. Denn das Internet schafft mit physikalischen Mitteln einen Raum, der sich gleichwohl physikalisch nicht berechnen lässt.
Alle, die Tag für Tag in Videokonferenzen sitzen, die online Computerspiele mit anderen spielen oder die Liveevents in Social Media beiwohnen, erleben diesen Raum. Der sogenannte Cyberspace ist so real wie der physikalische Raum, und doch "nur" virtuell. Wobei das "Nur" in Anführungszeichen steht.
Hier sollen keineswegs Cyberspace und Internet himmlisch verklärt werden. Anfangs haben das tatsächlich viele getan und es mit großen Verheißungen religiös aufgeladen. Davon bin ich weit entfernt. Im Internet gibt es mindestens so viel Müll und Schmutz, Hass und Böses wie in der physikalischen Welt. Aber dass es einen solchen virtuellen Raum gibt, holt die religiösen Vorstellungen und Erfahrungen aus der Defensive. Durch den Cyberspace ist es plötzlich selbstverständlich, dass es virtuelle Räume gibt und auch weitere Räume geben kann. Die Vorstellung eines Himmels wird nicht mehr von der wissenschaftlichen Diskussion erstickt. Der Wind hat sich gedreht, könnte man sagen. Plötzlich sind die "Es-gibt-nur-was-man-sieht"-Erklärer in der Defensive.
Nochmal: Damit ist keine Gleichsetzung von Cyberspace und religiösem Erfahrungsraum gemeint. Es bricht nur die Vorherrschaft des physikalisch erklär- und berechenbaren Raums. Es kann selbstverständlich neben dem physikalischen Raum andere, nicht berechenbare Räume geben, die nicht weniger real sind. Also kann Gott im Himmel wohnen und der Himmel ist nicht einfach das physikalische Universum.
Damit ist natürlich nichts bewiesen. Ob es Gott gibt und ob er im Himmel wohnt, das kann nur jede und jeder mit dem eigenen Glauben oder Nicht-Glauben beantworten. Wer glaubt, dass es Gott gibt, glaubt aber nicht nur an ein moralisches Gesetz und an einen raumlosen Gott. Gott ist mehr als eine Idee.
Die alten Fresken in den Kuppeln und die Bilder auf den Altären sind vielleicht doch nicht so abwegig. Sie sind in vielem naiv, aber eben nicht prinzipiell überholt und aufgeklärt erledigt. Man kann Wissenschaft schätzen, wissenschaftlich denken und dennoch glauben, dennoch Gott Raum geben. Der Himmel ist eben nicht das seit dem Urknall sich beständig ausdehnende Universum, das wir Menschen erforschen und immer mehr darin entdecken. Gott kann "daneben" und "darin" oder "darüber hinaus" eigenen Raum haben. Dafür kann das Bild des Himmels dienen, aber auch das der himmlischen Stadt wie am Ende der Bibel oder das des Gartens Eden wie ganz am Anfang der Bibel.
Die Bilder wollen zeigen, dass ein anderer Raum unseren Raum berührt. Die Wirklichkeit Gottes lässt sich weder erfassen noch bemessen. Man kann sich aber von ihr berühren lassen und sie sich ausmalen. "In Gott leben, weben und sind wir" heißt es in der Apostelgeschichte. Und die Bibel hat für diese unsichtbare Nähe Gottes das alte Bild der Wolke. Schon in der Ansprache König Salomos bei der Einweihung des Jerusalemer Tempel hieß es, "Gott will im Wolkendunkel wohnen". Das hat eine lange Tradition, denn das Volk Israel erlebte Gott während seiner Wüstenwanderung als Wolkensäule und Feuerschein. Zeichen der Nähe Gottes.
Nebel ist nichts anderes als eine Wolke, die einen umhüllt. Dieses Wolken- oder Nebelbild spielt auch bei der Himmelfahrt Jesu eine Rolle. Als Jesus "in den Himmel fährt", da hebt er nicht ab wie eine Rakete, sondern es heißt, eine Wolke nimmt ihn auf. Und er ist vor den Augen der Jüngerinnen und Jünger entschwunden. Man könnte auch sagen, der Nebel verschluckt ihn. Denn er ist in Gottes Raum hinein- oder hinübergegangen.
Das "Wo" Gottes ist befreit von der raumlosen Ideenhaftigkeit und reinen Innerlichkeit. Gott ist groß und fern und alles umfassend, zugleich aber uns ganz nah. Er ist überall und nicht nirgends. Aber alles Wissen über Himmelsräume und Ewigkeiten nützt nichts, wenn Gott nicht in uns Wohnung nimmt. Deswegen kann und will Gott in uns Menschen wohnen. Gott will im Herzen Einzug halten. Gott wohnt da, wo man ihn einlässt.
Das drückt spielerisch das Gedicht des Schweizer Pfarrers und Schriftstellers Kurt Marti aus:
großer gott klein
grosser gott:
uns näher
als haut
oder halsschlagader
kleiner
als herzmuskel
zwerchfell oft:
zu nahe
zu klein –
wozu
dich suchen?
wir:
deine verstecke
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Eva Kruse, Still on the mo
2. Eva Kruse, Pendel
3. Eberhard Weber, The following morning
4. Firomanum Firomanum, Firoska
5. Firomanum Firomanum, Hello
Literatur dieser Sendung:
1. 1 Könige 8,12-15.27f BasisBibel