"Furcht ist nicht in der Liebe." Dieser Satz aus dem 1. Johannesbrief in der Bibel weckt Widerspruch. Denn wessen Liebe kennt nicht auch Furcht? Wer würde Kinder, Partner, Partnerin oder Eltern nicht nur lieben, sondern sich auch um sie ängstigen? Gut, dass der biblische Briefeschreiber diesen Satz ergänzt: "…denn die wahre Liebe treibt die Furcht aus!" So wird er verständlicher. Es geht also nicht um eine ideale Vorstellung von Liebe, sondern um eine Kraft, die wirksam ist und hilft, Furcht zu überwinden.
Die christliche Gemeinde, an die der Schreiber seinen Brief richtet, soll der Spur der Liebe folgen, wenn Furcht sie gefangen nimmt. Und das in einer Situation, wo es fürchterliche Auseinandersetzungen in urchristlichen Gemeinden gegeben haben muss. Es ging um Ausgrenzung und Machtkämpfe, vielleicht sogar um Hass. Leider erfahren wir nicht, wie der Rat aus dem Johannesbrief umgesetzt wurde. Wir wissen nur: Sein Brief hat der Urkirche geholfen, sich in der biblischen Tradition zu verankern und das Gebot der Liebe zu beherzigen.
Und heute, in unseren verrückten Zeiten? Wie kann es gelingen, sich der Liebe zum Leben zuzuwenden und immer furchtloser dafür einzutreten?
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür konnte man Mitte Juni auf dem Berliner Bebelplatz erleben. Drei Wochen lang erinnerte eine Installation an das Schicksal der nach Gaza verschleppten Menschen aus Israel und anderen Nationen. Die Künstler haben - mit Hilfe von über 60 Freiwilligen - einen begehbaren Hamas-Tunnel nachgebaut und stellten leere weiße Stühle mit den Bildern der Verschleppten auf. Neben den Stühlen erinnerte eine riesige Sanduhr daran, dass für die Geiseln die Zeit davonläuft. Auf einer "Wand der Hoffnung" konnte man Wünsche und Gebete für die Geiseln hinterlassen. Täglich fanden Konzerte und andere Veranstaltungen auf dem "Platz der Geiseln" statt, der ganz offiziell für die Dauer der Installation so genannt wurde.
Zur Eröffnungsfeier gehörten - neben den Reden - auch Musik, Gebete und Lieder. Eines trug den Titel "Jesch bi ahava" – "In mir ist Liebe". Es ist in Israel so bekannt, dass die meisten bei der Eröffnungsfeier einstimmen konnten. Eine Übersetzung lautet so:
"Zwischen dem Dunkel und dem Verborgenen
in unserer bitteren Welt
Sie sagen: Es gibt noch Hoffnung
sie wird Liebe genannt
Und wir warten auf ihre Ankunft
Ich bin voller Liebe
Sie wird erwachen und erkennen
Ich bin voller Liebe
Und sie wird triumphieren."
Tag für Tag trafen sich Freiwillige auf dem Berliner Bebelplatz. Sie informierten über die von der Hamas verschleppten Geiseln und standen als Gesprächspartner zur Verfügung. Dank Wachschutz, Polizeistreifen und Umzäunung entstand hier ein Ort, an dem man sich sicher fühlte. Es wurde möglich, den Gefühlen freien Lauf zu lassen: trauern, lachen, weinen. Sogar das Tanzen war ausdrücklich erwünscht. Als Zeichen dafür wehte über der Bühne die Flagge des Nova-Festivals in Israel. Das Festival war eines der Ziele, die die Hamas-Terroristen am 7. Oktober angegriffen haben. "Wir werden wieder tanzen" ist seitdem ein Motto derer, die den Anschlag überlebt haben.
Die Bühne wurde zum Dreh- und Angelpunkt des Platzes. Ein gelbes Klavier erinnerte an den jungen israelischen Pianisten Alon Ohel, der ebenfalls verschleppt wurde. Weltweit, in Tel Aviv, in Tokyo, in New York und in Amsterdam wurden Konzerte auf einem gelben Klavier gegeben. "Bringt sie jetzt nach Hause!" und "Du bist nicht allein!" ist die Botschaft. Ein Signal an die Angehörigen der Geiseln, die in Ungewissheit und Angst um ihre Lieben leben müssen.
In Berlin spielte auch der Pianist Ben Arav auf dem gelben Klavier. Er begleitete den Kantor Hemi Levison mit Liedern voller Hoffnung, Trauer, Sehnsucht. Wer den beiden zuhörte, nahm aber auch andere Eindrücke wahr: Regen und Wind, Straßenlärm, Störungen mancher Passanten und von anti-israelischen Demonstranten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. In diesem Lärm wurde die Musik der beiden zum Zeichen der Schönheit und Liebe.
O-Ton vom Bebelplatz
Nach dem 7. Oktober entwickelte sich ein Lied zur Hymne: "Habayta", "Nach Hause". Auch der Kantor Hemi und der Pianist Ben hatten es für ihr Konzert ausgewählt, denn es spiegelt wie kein anderes Lied die Situation der Menschen, die in Angst um ihre Angehörigen und Freunde leben. Die warten, hoffen und die Fesseln der Furcht sprengen wollen. Die sich miteinander verbinden und daraus Kraft schöpfen. "Habayta" ist mehr als ein Lied. Es ist ein Gebet. Wenn man es gemeinsam singt, hat es die Kraft - wie ein biblischer Psalm -, gefrorenen Herzen Wärme zu spenden.
Es gibt einen Videoclip, der nach der Geiselnahme im antiken Amphitheater von Cäsarea gedreht wurde mit über 1000 israelischen Musikern und Musikerinnen. Auch Angehörige der Geiseln waren dort. Sie singen mit Hingabe:
"Noch eine Stunde ist vergangen, noch eine ruhelose Stunde
Unkraut wuchs auf dem Pfad und im Garten
Wind seufzt, öffnet den Fensterladen
Und peitscht gegen die alte Wand
Als würde er rufen:
Nach Hause, nach Hause!
Es ist Zeit zurückzukehren
Von den Bergen, von den fremden Feldern,
Der Tag verblasst und es gibt kein Zeichen
Nach Hause, nach Hause
Es ist Zeit zurückzukehren
Bevor das Licht schwindet
Kalte Nächte, bittere Nächte
Nähern sich jetzt, hierher
Bis zum Morgengrauen bete ich für dein Wohlergehen
Gefesselt im Griff der Angst
Ich höre Schritte
Nach Hause, nach Hause
Denn noch nicht gegeben ist,
Was uns vor langer Zeit versprochen wurde.
Nach Hause!"
Hagar und Shay sind zwei Israelis, die die Installation auf dem Berliner Bebelplatz zur Erinnerung an die israelischen Geiseln mit vorbereitet haben. Der Überfall der Hamas hat ihr Leben von einem Tag auf den anderen verändert, auch wenn sie schon seit Jahren in Deutschland heimisch sind.
Hagars Cousin wurde bei dem Überfall auf das Nova Festival erschossen; erst vier Tage später wurde sein Leichnam gefunden. Der Schock rührt an alte, vererbte Traumata. "Es ist etwas geschehen, was wir nur aus den Erzählungen unserer Großeltern kannten", sagt Hagar. Die Vergangenheit, die nie wirklich vorbei war, erlangt nun eine furchterregende Präsenz.
Auch Shay hat der Überfall tief erschüttert. Er beschreibt, wie das Entsetzen noch verstärkt wurde durch unerwartete Reaktionen aus seinem Umfeld in Deutschland. Er arbeitet selbständig als Koch und hat erlebt, dass Aufträge ohne Begründung plötzlich storniert werden. Selbst in der Öffentlichkeit kommt es zu hässlichen Zwischenfällen. Einmal hilft er, der in einer sowjetischen Familie aufgewachsen ist, einem Mann in der U-Bahn, der sich nur auf Russisch verständigen kann. Als der Mann fragt, woher Shay stammt, und erfährt, dass er Israeli ist, gerät er außer sich. "Kindermörder" schreit er auf Russisch und: "Wir werden alle Juden töten."
Shay versucht zwar, solche Ereignisse nicht an sich heranzulassen. Aber es trifft ihn, wenn gute Bekannte nicht einmal nachfragen, wie es ihm und seiner Familie in Israel gerade geht, ja sogar den 7. Oktober feiern. Dabei war man bisher doch politisch auf einer Linie, wenn es um Diskriminierung und Rassismus ging!
"Du hast viele Freunde verloren durch den 7. Oktober? Ich denke, alle Leute, die ich kenne, Juden und Israelis, haben diese Erfahrung, dass viele Kontakte abgebrochen sind. Freunde, Kollegen, bekannte Leute."
Hagar hatte sich in den ersten zwei Monaten nach dem Massaker zu Hause eingeschlossen:
"And then, obviously with October I lost my faith in people. I was really afraid. I could not…I barely left my house, not talking to anyone. Like taking my son to the Kita and back. That was basically it."
"Und dann, natürlich im Oktober, habe ich mein Vertrauen in Menschen verloren. Ich habe mich wirklich gefürchtet. Ich konnte nicht, ich habe kaum mein Haus verlassen für die ersten zwei Monate, mit niemandem gesprochen, nur meinen Sohn zur Kita gebracht und zurück."
Wer erleben muss, dass Mitgefühl und Verständnis von guten Bekannten und Freunden ausbleiben, verliert unter Umständen den Glauben an sich selbst: "Ich dachte, ich werde verrückt!", sagt Shay. Beide, Shay und Hagar, beschreiben ihre körperlichen Reaktionen in dieser Zeit: Dauernde Anspannung, Grübeln, unkontrolliertes Weinen, Schlafschwierigkeiten und Rückzug.
Das sind typische Reaktionen auf ein traumatisches Erleben. Menschen reagieren mit solchen Symptomen, wenn die normalen Bewältigungsmechanismen nicht mehr greifen. Manchmal finden die Betroffenen von selbst ins Gleichgewicht, aber meist braucht es Hilfe.
Lieder können helfen. Denn wenn man gemeinsam singt, nimmt die Anspannung ab und die Verbundenheit miteinander wird stärker. "Ich fand, dass du mit mir bist" heißt eine Verszeile in dem Lied "Roim rachok, roim shakuf", das ebenfalls auf dem Platz der Geiseln gesungen wurde, dem Berliner Bebelplatz.
"Ich habe meinen Weg verloren
Mein Leben war ein Rätsel
Dürstend wie ein Wanderer in der Wüste
Nach einem Wort der Wahrheit
Das Kraft gibt
Damit ich mich dem Morgen zuwenden kann."
Der Refrain greift biblische Bilder auf von Gottes Schutz und Anwesenheit:
"Der Mensch ist wie ein Baum, ans Wasser gepflanzt
Eine Wurzel, die sucht
Ein Mensch ist wie ein Busch vor dem Himmel,
In dem ein Feuer brennt."
Der letzte Vers endet mit den Worten:
"Ich kehrte nach Hause zurück
Und fand, dass du mit mir bist.
Bis mein Weg durch den Sturm endet.2
Hagar und Shay haben den anfänglichen Schock überwunden. Schritt für Schritt fanden sie aus dem Chaos der Gefühle und der Einsamkeit heraus. Sie mussten eine Antwort finden auf die Frage: Wie will ich mein Leben führen? Andere Menschen halfen. Shay hat eine gute Freundin, die ihn mit seiner Wut konfrontierte. Sie ermutigte ihn, sich dem eigenen Hass zu stellen. Shay erschrak - und zwar über sich selbst:
"Das ist nicht ich, ich bin nicht für Hass und ja, wie gesagt, ich will nicht Hass mit Hass beantworten, weil es geht mir sehr schlecht, sehr schlimm und schlechtes Gefühl, wenn ich hasse."
Konstruktive Aktivität hilft. Er schließt sich einer Gruppe an, die antisemitische Graffitis übermalt und Sticker der Hamas entfernt. Sie knüpfen Kontakte zur Politik, suchen das Gespräch mit der Polizei. Antisemitische Vorfälle und Hasspropaganda werden dokumentiert und angezeigt.
Ebenso wie Hagar hat Shay an der Installation auf dem Platz der Geiseln mitgebaut. Das bedeutete auch: Gesprächsbereit sein. Wer dort vorüberging, wurde eingeladen, doch einmal hereinzukommen.
Nicht immer waren solche Begegnungen erfreulich. Täglich gab es verbale und körperliche Angriffe. Aber Shay wollte jeden ansprechen, auch potenzielle Gegner. Das war und ist nicht leicht. Er musste seine Furcht überwinden. Wenn an der Berliner Humboldt-Universität gegenüber vom Platz der Geiseln eine antiisraelische Demonstration stattfand, ging er hin. Obwohl die Demonstranten seine Anteilnahme für die Kriegsopfer in Gaza anzweifelten, blieb er standhaft:
"Ich lüge nicht. Ich will Frieden. Ich will mit euch sprechen. Bitte, wer will mit mir sprechen? Ich will sprechen, nur sprechen. Ich bin nicht für, ich bin nicht gegen, ich bin gegen tote Menschen."
Gespräche anzubieten ist Shays Antwort auf Hass. Mit offizieller Erlaubnis baut er auf dem Campus der TU Berlin einen Stand auf und lädt ein: "Ich bin aus Israel. Du kannst mich alles fragen" steht auf seinem T-Shirt auf Englisch. Es geht um gegenseitiges Kennenlernen, um Respekt und um Faktenklärung. Nicht immer glückt es. Aber dieses Angebot überrascht. Die Vorübergehenden stutzen. Wenn sie sich dann auf ein Gespräch einlassen, gelingt es Shay manchmal, vorgefasste Meinungen ins Wanken zu bringen:
"And if I can do that and they go home and google something, I think, it’s good. And again, that gives me hope for the future, because if we don’t do that, we’re just going to have everyone hating us."
"Wenn ich das tue und sie gehen heim und recherchieren im Internet, dann denke ich, es ist gut. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft. Denn wenn wir das nicht tun, dann werden wir alle gegen uns haben, dann wird jeder uns hassen."
Hagar hat zwei Monate gebraucht, um das Entsetzen zu überwinden. Sie wollte nicht länger wie erstarrt zu Hause sitzen. Auch um ihres kleinen Sohnes willen, der ihre Angst nicht miterleben soll. Sie beginnt, sich politisch zu engagieren, die Installation am Platz der Geiseln mit zu organisieren.
"And I just started to search for things I can do to change and to improve our lives. Like I didn’t want to live in fear. I didn’t want my son to live like that."
"Ich habe gerade erst damit angefangen, danach zu suchen, was ich tun kann, um etwas zu verändern. Denn ich wollte nicht in Angst leben. Ich wollte nicht, dass mein Sohn so leben muss."
Weil Hagar aus der IT-Branche kommt, entwickelt sie Tools für Recherche und Fakten-Checks. Wie Shay beteiligt sie sich an Gruppen, die antisemitische Vorfälle dokumentieren und bei der Polizei anzeigen. Sie erlebt: Ich bin nicht hilflos. Ich kann mich verteidigen und bin als Israelin mit erhobenem Kopf unterwegs. Denn der Nazi-Terror hat nicht gesiegt; jüdisches Leben geht weiter, mittlerweile in der vierten Generation nach dem Holocaust.
Mit dieser Liebe zum Leben, gereift durch bittere Erfahrungen ist Hagar aufgewachsen: Ihr Großvater hatte den Holocaust überlebt. Er hat der kleinen Hagar und ihren Geschwistern alle Liebe mitgegeben, die er hatte. Hagar erinnert sich an diesen lächelnden alten Mann, der es liebte, mit seinen Enkeln zu spielen. So wie Hagar es jetzt liebt, mit ihrem Sohn zu spielen. Dann kann sie alles um sich herum vergessen, auch die Furcht.
"Denn die wahre Liebe treibt die Furcht aus!" Vielleicht hätte der Schreiber des 1. Johannesbriefs noch ergänzen können: Auch Kunst und Musik werden helfen.
Zum Beispiel kümmerte sich Hagar auf dem Platz der Geiseln in Berlin um die Reihen der weißen, leeren Stühle. Dort platzierte sie die Bilder der Geiseln, die zusammengehören. Für die Bilder von zwei Kindern, die von der Hamas verschleppt wurden, überlegte sie sich etwas Besonderes. Sie brachte zwei Kinderstühle von zu Hause mit, stellte sie in die Mitte. So fand sie ihre Form der Trauer um den Cousin.
Was bedeutet Musik für sie? Hagar hört ganz unterschiedliche Stilrichtungen zu Hause, je nach Stimmung. Sie hört intensiv, tanzt und singt dazu, bis sie wieder frei atmet.
Shay hört oft spirituelle Songs. Zum Beispiel "Shir la Ma´alot" der israelischen Gruppe Sheva. Der Text des Liedes stammt aus dem 121. Psalm, der wohl wie kein anderer biblischer Psalm um Schutz bittet: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe?" Die Antwort lautet: "Meine Hilfe kommt von dem, der Himmel und Erde gemacht hat. Er behütet dich bei Tag und bei Nacht."
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Gesang und Lyrics: Arik Einstein, Shem Tov Levy Ensemble: Jesch bi Ahava
2. Lyrics: Ehud Manor, Composer Yair Klinger: Habayta
3. Shmulik Kraus: Roim rachok, roim shakuf: גלגל מסתובב
4. Sheva: Shir LaMa´alot