Der Mann am Main
Die Schöpfung beginnt mit Ordnen
19.08.2024 06:20

Er lebt auf der Straße und legt an der Flusspromenade heruntergefallene Blätter zu einem akkuraten Quadrat. Ist das zwanghaft, sinnlos – oder kreativ?

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Wenn im Spätsommer manche Bäume bereits ihre Blätter fallen lassen, tritt er in Aktion: der Mann am Main. Ich komme bei ihm vorbei, wenn ich meine Morgenrunde mit dem Hund am Frankfurter Mainufer drehe.

Der Mann ist schlank, vielleicht um die 50 Jahre alt, mit freundlichem, in sich gekehrtem Blick. Sein Gesicht ist sonnengebräunt vom Immer-draußen-Sein. Wo er schläft, weiß ich nicht. Ich sehe ihn immer tagsüber bis in den Abend hinein auf den Straßen unterwegs.

Und eben auf der Promenade am Mainufer, besonders wenn die ersten Blätter fallen. Sie liegen kreuz und quer auf dem kopfsteingepflasterten Karree unter den Platanen, von denen sie zu Boden gesegelt sind. Die Unordnung scheint den Mann am Main zu stören. Schon am frühen Morgen ist er damit beschäftigt, jedes einzelne Blatt von seiner vom Winde verwehten Lage in die Mitte des Karrees zu legen. Eins neben das andere, so dass mit der Zeit ein Quadrat aus Blättern innerhalb des Karrees entsteht. Die Ränder um das Blattquadrat herum lässt er frei. Unermüdlich bringt er auch die später fallenden Blätter in diese geometrische Form.

Ist das eine Zwangshandlung? Ist es ein Spiel - vielleicht gegen Langeweile? Ist es sein Ritual? Mir fällt bei der Symmetrie, die der Mann aus dem Durcheinander schafft, die Schöpfungsgeschichte in der Bibel ein. Da herrscht zu Beginn Tohuwabohu, ein wüstes Wirrwarr der Elemente. Und Gott formt das Chaos zum Kosmos. Gott spricht: Es werde Licht! Und sortiert dadurch Tag und Nacht, dann Wasser und Land, Himmel und Erde. Die Schöpfung beginnt mit Ordnen.

Natürlich muss man kein Ordnungsfanatiker sein, um kreativ werden zu können. Manchmal hat man im Chaos auf dem Schreibtisch sogar die besten Einfälle und umgekehrt keine Ideen mehr, nachdem man aufgeräumt hat, weil man dann nichts mehr findet. Aber die Dinge sortieren und ihnen eine Form geben, hat auch etwas Schöpferisches. Besonders wenn das Leben drumherum ungewiss genug ist, gibt Struktur ein wenig Sicherheit. Ich kann etwas tun, um nicht völlig dem Zufall ausgesetzt zu sein.

Ob das ein Grund ist, warum der Mann am Main die heruntergefallenen Blätter zum Quadrat ordnet? Ich weiß es nicht. In meinen Augen hat sein Tun etwas von diesem schöpferischen Ordnen, der Welt eine Form geben. Als ich mit meinem Hund an seinem Werk vorbeigehe, schaut er kurz auf. Ich sage: "Guten Morgen!" Er nickt zurück und hebt das nächste Blatt auf

Es gilt das gesprochene Wort.

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