epd-Bild/ Heike Lyding
Ein Leben für Verstand und Versöhnung
Alfred Grosser. Denker. Franzose. Gebürtiger Frankfurter jüdischer Herkunft
01.02.2025 06:35
Er saß zwischen allen Stühlen und hatte diese Position genutzt: Alfred Grosser erklärte den Franzosen die Deutschen und den Deutschen die Franzosen, den Atheisten die Gläubigen und den Gläubigen die Atheisten. 
 
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Zwischen den Stühlen sitzt man nicht bequem. Diesen Platz wählt kaum jemand gerne. Einen kenne ich allerdings, der hat da gerne gesessen. Der hat aus diesem Platz geradezu eine Institution gemacht. Ich rede von Alfred Grosser. Leider kann er heute seinen 100. Geburtstag nicht mehr feiern. Vor knapp einem Jahr ist er gestorben. Seinen scharfsinnigen Blick versuche ich zu bewahren, insbesondere seine Sicht auf den christlichen Glauben.

Alfred Grosser war Franzose und gebürtiger Deutscher. Er war jüdischer Abstammung und sah sich selbst als Atheist mit kritischer Sympathie für das Christentum. Am tiefsten verwurzelt, so scheint mir, war er in seinem kritischen Verstand. Und in der Liebe zum Menschen. Die beeindruckt mich besonders, gerade mit Blick auf seinen Lebensweg.

Alfred Grosser wuchs in Frankfurt am Main auf. Sein Vater war dort Professor und Leiter einer Kinderklinik. Die Familie war nicht religiös, aber den Nationalsozialisten galt sie als jüdisch. Vater Grosser erhielt 1933 Berufsverbot. Er ahnte, was da noch kommen würde. Die Familie emigrierte noch in demselben Jahr nach Frankreich.

So wurde Sohn Alfred Franzose.

Viele Verwandte fielen der Mordmaschinerie des Holocaust zum Opfer. Dennoch blieb Alfred Grosser an seiner Ex-Heimat Deutschland und an dessen Menschen interessiert. Das irritierte viele – viele Juden, viele Deutsche, viele Franzosen, viele Intellektuelle.

Zwischen den Stühlen richtete sich Alfred Grosser einen eigenen Platz ein. Dort kann man mehr sehen. Halb hier und halb da kann man auch zu einer Art Brücke werden. Das nutzte Grosser, um Versöhnung zu fördern. Er erklärte den Franzosen die Deutschen und den Deutschen die Franzosen. Den Atheisten erläuterte er die Gläubigen und den Gläubigen die Atheisten.

Seine Methode war dabei das logische Denken. Seine Haltung bestand aus echtem Interesse und Menschenliebe. Auf diese Weise platzierte er in einem freundlichen Ton auch scharfe Kritik und sprach heikle Punkte an. So wünschte er sich von Jüdinnen und Juden nicht nur ein feines Gespür für das selbst erlittene Unrecht, sondern auch Mitgefühl für andere Opfer von Hass und Ungerechtigkeit.

Mich interessiert natürlich besonders, was Grosser zum Christentum sagte. Als bekennender Atheist erkundete er es intensiv. Kompetent und persönlich beschrieb er die Stärken und Schwächen des Christentums. Darunter Tiefpunkte der Kirchengeschichte und Ungereimtheiten bei den Inhalten des Glaubens.

Was Alfred Grosser den Christen ins Stammbuch schreibt, kann ich auf ein Wort bringen: Bescheidenheit. Geärgert hat ihn immer – und das mit Recht –, wenn Christen zu großspurig auftraten. Wenn sie zum Beispiel alles Friedliche und Liebevolle für sich vereinnahmen wollten. Dagegen brachte Grosser zwei Einwände vor. Erstens forderte er die Christen auf: "Schaut selbstkritisch auf eure Geschichte. Sie ist zwar voller guter Taten und voller Glauben – aber sie ist auch voller Irrtümer, Versäumnisse und Grausamkeiten."

Zweitens betonte er sinngemäß: "Die Nächstenliebe habt ihr Christen nicht erfunden und schon gar nicht exklusiv für euch. Ihr habt sie aus dem Judentum übernommen. Außerdem haben auch Atheisten und Menschen anderer Religionen Liebe in sich. Humanität und soziales Gefühl – das verbindet viele Menschen über verschiedene Lebensanschauungen hinweg."

Gerade darin sah Grosser einen großen Schatz: eine gute Basis für gemeinsames Handeln zum Wohl der Welt. Das lag ihm besonders am Herzen: gemeinsames Handeln zum Wohl der Welt. Dafür rückte Grosser gerne die Stühle zusammen, zwischen denen er saß. Zusammenrücken, Brücken bauen im Geist der Versöhnung – das ist so nötig heute.

Es gilt das gesprochene Wort

 

Literaturhinweis: Alfred Grosser: Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf das Christentum, Vandenhoeck & Ruprecht, 2005

 

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