Wort zum Tage
Wort zum Tage 05. 01.
05.01.2016 05:23

Christen sind Lustverweigerer. Die moralischen Grundsätze lassen es nicht zu, dass Christen Spaß am Leben haben. Wie bei so vielen Vorurteilen ist auch bei diesem durchaus etwas dran. Es gibt sie ohne Zweifel, die Christen, die mit sauertöpfischer Miene durch die Welt laufen und für ihre Lust und Schönheit nur Verachtung übrig haben. Die Frage ist nur, ob das zum Christsein notwendig dazugehört oder ob es sich dabei um ein Missverständnis handelt. Die Bibel jedenfalls, jenes Buch, auf das sich die Christen beziehen, kennt beides: Skepsis gegenüber der Lust und die Feier der Lust. Letzterem ist sogar ein ganzes biblisches Buch gewidmet, das sogenannte Hohelied. Es enthält eine Sammlung von Liebesliedern. Liebe und Lust sind bekanntlich untrennbar miteinander verbunden; und so birst manche Stelle des Buches geradezu vor Lust. Ich habe vor einigen Jahren eine öffentliche Lesung aus der Bibel  organisiert. Sie fand in einer Bank statt; und ich bat eine Schauspielerin und einen Schauspieler um die Rezitation. Natürlich wählte ich auch Texte aus dem Hohenlied aus. Die beiden Profis rezitierten die lustbetonten Texte mit Wonne. Während der Hauptprobe betrat mein Partner von der Bank den Raum. Ihm blieb der Mund offen stehen. Dann wandte er sich zu mir und sagte: "Ich dachte, es sollte eine Lesung aus der Bibel werden!" Es bereitete mir ein köstliches Vergnügen, sagen zu können: "Aber guter Mann, das sind Texte aus der Bibel!" Wer also glaubt, der christliche Glaube und die Lust schlössen sich gegenseitig aus, hat zumindest die Bibel gegen sich. Auch Jesus Christus war durchaus kein weltabgewandter Eremit. Er wusste eine gute Mahlzeit und einen guten Wein so sehr zu schätzen, dass man ihn einen Fresser und Weinsäufer nennen konnte. Von Lustfeindlichkeit kann also keine Rede sein. Aber die Bibel und mit ihr der christliche Glaube kennt auch das andere Extrem: die Verfallenheit an die Lust. Das ist wie mit dem alten König David. Er bekam Lust auf Sex mit seiner Nachbarin Bathseba,  sorgte dafür, dass ihr Mann den Heldentod in einer Schlacht starb und verlor so Anstand und Würde. Da setzt die biblische Kritik ein – und das mit Recht. Der christliche Glaube erstrebt das Ganze eines gelingenden Lebens. Dass Lust und Liebe dazugehören, ist nicht zu bestreiten. Das Zentrum des Christlichen Glaubens freilich ist die menschliche Lust nicht. Das Zentrum ist die Liebe Gottes zu den Menschen, die Lust des Allerhöchsten, sich uns liebevoll zuzuwenden. Aus dieser Liebe heraus kann man Maß und Grenze der Lust finden und empfinden.