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Pfarrerin:
So ist sie, unsere Superintendentin: Gewohnt, sich alle amtlichen Türen mit dem eigenen Handballen aufzustoßen. Der Wunsch des Gastes, ihr als Dame den Vortritt zu lassen, muss sie überraschen. Er, ein Kavalier alter Schule, verbeugt sich. Fehlt nur, dass sie jetzt einen Buckel macht. Doch schon hat unsere Chefin sich wieder im Griff. Sie streckt sich, sie dankt ihm, sie schlüpft vor dem alten Herrn und mir in den Konferenzsaal und übernimmt die Führung. Selbstbewusst, aber nicht unfreundlich weist sie dem berühmten Gast einen Sitzplatz an ihrer linken Seite zu.
Zugegeben: Ich bin meiner Chefin gegenüber nicht objektiv. In allem, was sie auf die Beine stellt, wittere ich Berechnung. Seit sie mir damals die Stelle als Diakoniepfarrerin vor der Nase weggeschnappt hat, bloß um sich ein halbes Jahr später zur Superintendentin küren zu lassen. Sie begrüßt jetzt unseren Gast, einen biblischen Promi. Dank ihrer guten Vernetzung habe sie ihn für diese Fragestunde gewinnen können, obwohl, na ja, räusper räusper, ein Vorbild wie er, der reinste Samariter unter den Samaritanern, sei natürlich immer voll ausgebucht, und eigentlich hätte sie kaum zu hoffen gewagt, dass er zusagt… „Wo war ich stehen geblieben?“ Während sie dem biblischen Gast also Kübel von Honig um seinen fransigen Bart schmiert, kommt mir der Verdacht, dass sie ihre Lobeshymne nicht ganz uneigennützig anstimmt.
‚Samariter‘:
Eine Reise? In meinem Alter und in die kirchliche Provinz? Eigentlich sind mir solche Abenteuer längst zu anstrengend geworden. Dass ich dennoch zusagte, lag an dem Reizwort „Geldautomat“. Das zog. Vor ein paar Wochen hatte der Geldautomat ja kurz die Schlagzeilen unseres Abendblatts gefüllt. Der anschließende Shitstorm im Internet war nicht mal mir entgangen. Na sicher, musste ich der Frau am Telefon zustimmen: Genau mein Thema!
Es ging um einen älteren Herrn, der im Vorraum einer Bank zusammengebrochen war. Es ging um die Kaltherzigkeit von Kunden, die über seine eingeknickten Beine hinweggestiefelt waren, um schnell ihr Bargeld abzuheben und anschließend zur Kita oder zum Einkaufen eilen zu müssen.
Kurzum: In dieser üblen Geschichte hatte Frau Superintendentin einen Wink des Himmels entdeckt. Unterlassene Hilfeleistung am Geldautomaten. Schrie dieser Vorfall nicht danach, der verbreiteten Unkultur des Wegschauens eine Kultur des Hinschauens entgegenzustellen, eine Haltung der Achtsamkeit? Gerade christlicherseits, nicht wahr? Und ob ich mir überhaupt einen passenderen Experten vorstellen könne als mich selbst?
„Ein Gesetzeslehrer aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
Da antwortete Jesus und sprach:
Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber.
Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn“
(Lk 10,29-33)
‘Samariter’:
Generationen von Christen haben mir anerkennend zugenickt, wenn sie mich als den Samariter aus dem Gleichnis identifizierten. Jetzt schlägt mir Skepsis entgegen. Warum komme ich Samariter mir vor wie auf der Anklagebank, und warum ausgerechnet hier, in dieser Versammlung?
Bisher wurden Priester und Levit bedenkenlos vor den Amtsrichter gezerrt und einer Straftat bezichtigt. Inzwischen reißen die Workaholics der Postmoderne ungefragt ihre Verteidigung an sich; „Termine, Termine“, man kenne die Überlastung der Geistlichkeit. Alle hangeln sich am Abgrund des Burnouts entlang, denn irgendwann müsse auch der fleißigste, religiöse Leistungsträger die Kirchenpforte mal hinter sich schließen dürfen.
„Und wenn sie den Verletzten einfach übersehen haben?“ richtet eine gut gepolsterte Dame sich direkt an mich. Wahrscheinlich klemmte ihr pastoraler Blick noch ganz fasziniert im himmlischen Jerusalem fest! Meint sie. Das halte ich für eine Ausrede. Denn als ich kurz darauf selbst zu der Stelle kam, bockte mein Esel. Der Verletzte lag quer im Weg. Ein paar Meter vorher war mir schon ein verbeulter Schuh aufgefallen, daneben Kleiderfetzen und feuchte Stellen, wie von Blut. Das konnte man nicht übersehen – ganz abgesehen davon, dass der überfallene Mensch auch noch geröchelt hat.
Die Gepolsterte aus der Fragerunde gibt sich noch nicht geschlagen. Jeder, der einmal ein diakonisches Praktikum absolviert habe, stellt sie fest, der wisse, wie leicht ein Helfer etwas falsch machen kann. Im Zweifelsfall schadet ein stümperhafter Einsatz dem Hilfsbedürftigen, statt ihm zu nützen. „Genau!“ Zustimmendes, kollegiales Kopfnicken kreist mich im Konferenzraum ein. Und noch ein Argument wird auf den Tisch geknallt, zur Entlastung von Levit und Priester, und mit Zustimmung der anwesenden Berufstheologen: „Wahrscheinlich haben die hohen Herren das Opfer für tot gehalten“, wird spekuliert. Dann nämlich befanden sie sich in einer priesterlichen Zwangslage. „Einen Toten anzufassen, hätte die Kultbeamten verunreinigt und ihren heiligen Status beschädigt.“ Die Verteidigerin wendet sich wieder exklusiv an mich. „Sie als Samaritaner…“ unterstellt sie mir, „Sie als jüdischer Sektierer blieben von amtlich bedingten Gewissenskonflikten natürlich verschont.“
Soll das ein Vorwurf sein? Will sie mich davor warnen, mich als moralisch integre Gegenfigur zum offiziellen Tempelpersonal aufzuspielen? Wer wie ich keine Dienstpflicht zu erfüllen hat, meint sie, der hat es sowieso leichter im Leben. Meint sie.
Als ob das Verbot, mich an einem Verstorbenen zu verunreinigen, nicht auch für mich als Samaritaner gegolten hätte! Ich habe mich aber über die Buchstaben des Gesetzes und dieser Vorschrift hinweg gesetzt, jawohl, und genau dieser Ungehorsam ist manchmal nötig. „Denn wissen Sie was, werte Dame? Erstens war der Überfallene noch gar nicht tot. Zweitens: „Warum, glauben Sie, legt der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs uns Stolperfallen aus Fleisch und Knochen in die Laufbahn? Damit wir mit reinen Händen, aber weiträumig an ihnen vorüber stapfen?“
Pfarrerin:
Eisiges Schweigen. Nur unsere Superintendentin balanciert einen kleinen Triumphzug über ihre Gesichtsmimik. Sie sieht sehr zufrieden aus, unsere Chefin. Ich wette, dass nicht nur mir selbst die Szenen durch den Kopf huschen, die unser Regionalfernsehen nachgestellt hat. „Unterlassene Hilfeleistung am Geldautomaten“. Ein Mensch liegt mit verdrehten Beinen im Weg. Erst der vierte oder fünfte Kunde zückt neben der Bankkarte auch noch sein Handy, um den Notarzt zu rufen. Niemand nähert sich dem alten Mann, um nach seinem Herzschlag zu tasten.
Auch die junge Kollegin neben mir wählt den digitalen Abstand. Ihre Fingernägel kratzen nervös an den scharfen Rändern ihres Tablets entlang. Seit Monaten arbeitet sie an einem Konzept für die diakonische Profilbildung in unserem Kirchenkreis. Sie will erforschen, wie die Berufssamariter mit dem Überschuss an Mitleid fertig werden. „Wer braucht schon Mitleid?“ Schon das Wort macht ihr Zahnschmerzen. Empathie? Geschenkt. Empathie ist hilfreich. Prosoziales Verhalten? Klar. Eine humanitäre Pflicht. Aber Mitleid? „Wer braucht schon Mitleid? Das tut doch bloß weh! Das zieht einen doch bloß runter! Das demütigt überdies alle Hilfsbedürftigen und raubt ihnen die Selbstbestimmung!“ Wenn es nach meiner Kollegin geht, kann dieser ganze, erbärmliche Mitleidsmüll der Gutmenschen entsorgt werden. „Abgrenzung“! fordert sie stattdessen.
Wenn sie eines gelernt habe, sagt sie, dann dies: Nur aus dem emotionalen Abstand heraus lasse sich der Überblick bewahren, und dieser Überblick sei doch die Voraussetzung jeder effektiven Hilfe. Man stelle sich einen Arzt vor, der eine lebensrettende Operation unterlässt, nur weil sie schmerzhaft für den Patienten wäre. „So etwas ist unprofessionell!“, möchte sie klarstellen.
Während sie sich hinter ihrem Bildschirm verschanzt, hören wir anderen vom Samaritaner, wie er sich zu dem überfallenen Menschen in den Staub kniet. Er hat sich nicht einmal umgeschaut, ob die Räuber vielleicht noch in der Nähe auf ein zweites Opfer lauern.
‘Samariter’:
Ich konnte nicht anders!
Pfarrerin:
Beim Anblick des Blutenden habe es ihn halt gejammert, erklärt er.
In diesem Moment verliert die Kollegin hinter dem Tablet ihre Beherrschung. „Und was, bitteschön, soll das heißen?“ fährt sie ihn an. „Es hat Sie gejammert? Was bedeutet das denn? Ich wette, Sie wurden von einem puren Bauchgefühl gesteuert, nicht wahr? Geben Sie zu, dass Sie sich selbst gar nicht mehr unter Kontrolle hatten!“
‘Samariter’:
Da hat sie Recht. Mein Esel bockte, meine Augen fielen auf den Verwundeten, und mein Gedärm schickte Stiche in Richtung Herz. Dieser Schmerz schnitt mir durch sämtliche Innereien und war unkontrollierbar. So ähnlich stelle ich mir die Wehen einer gebärenden Frau vor: Es tut weh. Es geht durch und durch. Es zieht einen vom hohen Ross aller Schmerzfreien. Aber eines muss ich klarstellen: Der Mitschmerz schaltete meinen Kopf nicht aus. Mein Gesicht dicht an den blauen Flecken des Opfers, wusste ich genau, was jetzt zu tun war.
„…und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“
(Lk 10,34)
‘Samariter’:
Immerhin, meine Damen und Herren, immerhin habe ich eine mustergültige Erste Hilfe geleistet. Nachdem die tiefsten Wunden desinfiziert und notverbunden waren, sah ich ein, dass meine bescheidenen, medizinischen Kenntnisse nicht ausreichten, um diesen Risikopatienten wieder auf seine blaugeprügelten Beine zu stellen.
„Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.“
(Lk 10, 35)
‘Samariter’:
Du musst deine Grenzen kennen. Aber zieh die roten Linien nicht zu früh.
‘Samariter’:
Kaum hatte ich das gesagt, umringen mich zufriedene, strahlende Gesichter. Selbst die mollige Dame lächelt; vermutlich, weil ich meiner Zuständigkeit doch noch eine Grenze gesetzt habe.
Pfarrerin:
„Termine, Termine!“ Frau Superintendentin wird hektisch. Sie will die Sitzung beenden. Leider, bedauert sie, leider. Ich biete unserer Chefin an, den Transport des Samariters zu übernehmen. Er sieht erschöpft aus, und ich bin froh über die Gelegenheit, allein mit ihm zu reden. Mich interessiert sein erster Gedanke, als er damals zum Ort des Überfalls kam und den hilflosen Mann im Dreck liegen sah.
‘Samariter’:
Was für ein verkrümmtes, ausgeliefertes Häufchen Elend! Hab ich gedacht. Diese Nacktheit. Eine bis zum Knochen aufgeschürfte Haut. Mehr soll von uns allen nicht übrig bleiben? Und dann dieser zerrissene, ausgebeulte Schuh auf der Straße! Der hat mich besonders angerührt. Weil er den Fuß, der in ihm in Richtung Zukunft unterwegs gewesen war, nicht mehr zum Ziel tragen konnte.
Wissen Sie: Die Leute, die meine Geschichte hören, meinen immer, ich hätte mich zum Nächsten eines Fremden gemacht, und stellen mich als Vorbild hin. Aber es war ganz anders. Es war eine Art wiedererkennen. In den geschwollenen Augen des Verwundeten hab ich mich selbst gesehen; einen heute noch ganz Unverletzten, der morgen schon auf dem Rücken liegen und nur noch röcheln kann. Ich konnte nicht anders.
Pfarrerin:
Ich parke auf einem Behindertenparkplatz vor dem Bahnhof, obwohl ich dazu nicht berechtigt bin. Ich steige aus und öffne die Beifahrertür, um dem uralten Mann den Ausstieg zu erleichtern. Doch sein Platz ist schon leer.
Es gilt das gesprochene Wort.