Gemeinfrei via unsplash.com (Ahmad Odeh)
Nichts mehr zu verlieren
Freiheit 50 Jahre nach Woodstock, Janis Joplin und Bobby McGee
18.08.2019 08:35
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Eine eigenwillige Mischung aus Hoffnung, Energie und Melancholie – so lässt sich das Lebensgefühl von Janis Joplin beschreiben. Auf den Punkt gebracht in ihrem Song „Me and Bobby McGee“, vor knapp 50 Jahren. Eine Hymne der Popbewegung, gerade auch durch ihre zerbrechliche und zugleich trotzige Stimme.

 

 

Der Song geht langsam los. Später wird er immer schneller. So lief er Jahrzehnte lang auf Partys und in Discos. Eine Steilvorlage zum Tanzen, erst behutsam und in sich versunken, dann immer wilder und entrückter.

 

Der Refrain dieses Songs beantwortet in wenigen Worten die Frage der Popgeneration: Was zählt wirklich im Leben? Die Antwort, die der Song gibt, lautet: Sich gut fühlen, eine gute Zeit miteinander haben. Das ist wichtiger als Karriere und viel Geld. Viele junge Leute waren damals wohlstandskritisch. Sie sehnten sich eher nach einem einfachen und authentischen Leben. Dazu gehört die Frage, die bis heute aktuell ist: Was ist Freiheit?

 

Freiheit ist nur ein anderer Begriff für Nichts zu verlieren haben. Doch Nichts bedeutet nichts, Süßer, wenn es nicht frei ist. Sich gut zu fühlen war leicht, Gott, wenn er den Blues sang. Mich gut zu fühlen hat mir vollauf genügt, weißt du. Mir hat es genügt und auch meinem Bobby McGee.

 

Freiheit – im Zeichen von Love and Peace, Liebe und Frieden – das wollten damals viele leben. Heute klingt das für manche romantisch und naiv. Doch das stimmt weder für damals noch für heute. Damals stemmten sich viele damit gegen den Kalten Krieg in Europa und den brutalen Krieg der USA in Vietnam. Heute gilt das immer noch – oder wieder. Es wird wieder aufgerüstet. Misstrauen und Hass werden wieder gesät. Die Weltordnung der Abgrenzung scheint zurückzukehren. Die wollten viele junge Leute schon damals überwinden. Ihr neues Lebensgefühl lebten sie insbesondere auf Konzerten und Festivals aus. Das berühmteste von ihnen, längst eine Legende, ging heute vor 50 Jahren zu Ende: Woodstock.

 

Eigentlich war das Festival gar nicht als Hippietreffen im Zeichen von Love and Peace geplant, sondern als kommerzielle Aktion. Die Veranstalter wollten ihr Tonstudio bekannt machen und Geld verdienen. Doch die, die kamen, hatten anderes im Sinn. Es waren 500.000 – zehnmal so viele wie ursprünglich erwartet. Der Ansturm war so groß, dass die Veranstalter darauf verzichten mussten, vor Ort Eintritt zu verlangen. Daraufhin probten die Musiker den Aufstand. Sie hatten Angst um ihre Gage. Das große Fest der Liebe und des Friedens war hinter den Kulissen ein großes finanzielles Gezerre.

 

Für die Teilnehmer war es eher eine Zumutung: Viele kamen gar nicht erst an. Zu verstopft waren die Straßen in dieser ländlichen Gegend, die auf so viele Menschen gar nicht eingerichtet war. Auf dem Festivalgelände gab es zu wenig zu essen, zu wenige Toiletten. Dafür zu viele Drogen und zu viel Regen. Starke Schauer verwandelten das gesamte Gelände in einen tiefen Morast. Alles andere als ideale Bedingungen also. Dennoch feierten die Leute ihr neues Lebensgefühl: Love and Peace.

Und das sprang über. Die lokale Bevölkerung half den Gästen, obwohl die mit ihren langen Haaren und bunten Klamotten so ganz anders aussahen als sie selbst. Doch als das Essen ausging, teilten sie. Viele brachten, was sie in ihren Kühlschränken und Vorratskammern finden konnten.

So wurde aus dem Kommerz-Projekt ein historisches Fest menschlicher Harmonie.

 

Auf dem Festival trat auch Janis Joplin auf. Ihre Songs drücken sehr gut aus, was viele junge Leute damals empfanden. Ein solcher Song ist „Me and Bobby McGee“. Ein Satz darin geht mir bis heute nicht aus dem Ohr:

 

„Freiheit ist nur ein anderer Begriff für Nichts mehr zu verlieren.“ Dieser Satz berührt mich bis heute in der Tiefe der Seele. Früher habe ich ihn vor allem als Aufforderung gehört: „Werde frei, indem du dich von allem trennst!“ Eine radikale Forderung. Sie erinnert an ein Gespräch, das Jesus mit einem jungen Mann geführt hat. Er ist wohlhabend und ein nachdenklicher Typ. Den Sinn seines Lebens sucht er durchaus in Gott, er hält die Gebote seines Glaubens und sucht Gottes Nähe im Gebet. Alles richtig. Dennoch spürt er: Irgendetwas fehlt ihm. Deshalb geht er zu Jesus und fragt ihn: „Was muss ich noch tun?“ Jesus antwortet ihm: „Nimm alles, was du hast, verkauf es und gib es den Armen.“ Als der junge Mann das hört, geht er traurig davon. Denn alles weggeben, alles verlieren – das kann er nicht.

 

Mir fiele das auch schwer. Wie die meisten Leute habe ich ganz schön viel zu verlieren. Es fängt an mit dem Besitz. Je nachdem, was man hat: Haus, Ersparnisse, Auto, Aktien, Musiksammlung… Je mehr man hat, desto größer ist die Angst, es zu verlieren. Es ist ja kein Zufall, dass die Mauern und Hecken dort am höchsten sind, wo von alledem besonders viel zuhause ist.

Die Familie und die Freunde fallen mir ein, die möchte ich keinesfalls verlieren. Meine Arbeit – auch nicht. Mag sie auch manchmal mühsam sein, so gibt sie mir doch Sinn und bedeutet mir viel. Der eigene gute Ruf, die Achtung der anderen, auch das ist mir wichtig.

 

Janis Joplin hatte ebenfalls viel zu verlieren. Sogar besonders viel. Sie sehnte sich nach Aufmerksamkeit und Liebe. Unstillbar, haben ihre Eltern erzählt. Sie brauchte viel mehr Zuwendung als ihre beiden Geschwister. Als Teenager musste sie starke Akne und den Spott ihrer Mitschüler ertragen. Sie sehnte sich nach einer festen Beziehung und konnte doch keine eingehen. Janis war hungrig nach immer mehr Leben. Aber sie konnte davon nicht satt werden. Da halfen auch die Drogen und der Alkohol nichts.

 

Viel von ihrer Sehnsucht zeigt Janis Joplin in dem Song „Me and Bobby McGee“. Geschrieben hat ihn Kris Kristofferson. Die beiden hatten kurzzeitig eine Beziehung. Den Song schenkte er ihr zum Abschied. Und genau darum geht es auch. Um ein Liebespaar, das durch die USA trampt. Die beiden haben viel zusammen erlebt, sie sind ein inniges Liebespaar geworden. Im Moment sieht es allerdings nicht gut aus. Sie sind gestrandet. Abgebrannt und heruntergekommen in einem kleinen Ort, Baton Rouge am Mississippi, 130 Kilometer von New Orleans entfernt.

Ein LKW-Fahrer nimmt die beiden mit. Über die Musik finden sie zusammen.

 

Ich zog meine Mundharmonika aus meinem roten Kopftuch und spielte weich zu Bobbys Bluesgesang. Die Scheibenwischer schwappten hin und her und ich hielt Bobbys Hand in meiner. Wir sangen alle Songs, die der Fahrer kannte.

 

Auf der Fahrt erleben die drei einen dieser magischen und unvergesslichen Momente, in denen Menschen ganz tief zueinander finden. „Sich gut fühlen“, so nennt es Janis Joplin. Dafür braucht es gar nicht viel. Reichtum schon gar nicht. Musik genügt ihnen. Sie schafft eine Atmosphäre, in der sie über den Horizont des Alltags weit hinausschauen. So gerät dieser Song von Janis Joplin kurzzeitig zum Gebet: „Sich gut zu fühlen war einfach, Gott, wenn er den Blues sang. Mich gut zu fühlen hat mir und ihm vollauf genügt.“ Sich einfach gut fühlen – wenn das gelingt, dann treten die ungelösten Konflikte für eine Weile in den Hintergrund. Doch sie kehren zurück. So ergeht es auch dem Paar in dem Song. Bobby hat das Vagabundenleben satt. Er sehnt sich nach einem festen Zuhause. Sie aber nicht. Die beiden bringen ihre Wünsche an das Leben einfach nicht zusammen. Am Ende trennen sie sich. Tragisch, denn zumindest ihr zerreißt es das Herz.

 

Eines Tages, oben in Salinas, Gott, ließ ich ihn entschlüpfen. Er suchte nach diesem Zuhause und ich hoffe, er findet es. Aber ich würde alle meine zukünftigen Tage gegen einen einzigen Tag aus meiner Vergangenheit tauschen, nur um Bobbys Körper noch einmal an meinem spüren zu können.

 

Den Schlüsselsatz dieses Songs singt Janis Joplin im Liebesschmerz: „Freiheit ist nur ein anderer Begriff für Nichts zu verlieren haben.“ Sie singt das, als ihre wichtigste Bindung nur noch Schmerzen bereitet. Um sich davor zu schützen, tritt sie die Flucht nach vorne an: Weg mit allem, was Schmerzen bereiten könnte!

 

Früher habe ich diesen Satz als Aufforderung gehört, mich von möglichst allem zu lösen. Heute verstehe ich diesen Satz anders: als Einsicht in das Leben, wie es ist: Solange ich lebe, habe ich etwas zu verlieren. Solange ich etwas zu verlieren habe, bin ich nicht ganz frei. Denn Leben heißt, in Beziehungen zu sein, Bindungen zu wagen, Schönes zu teilen, Schmerz zu riskieren. Leben heißt immer auch, gefährdet und abhängig zu sein – von der Natur, von anderen Menschen. Letztlich von Gott, den ich als Quelle allen Lebens sehe. Wenn ich das alles hinter mir lassen wollte, dann müsste ich jede Liebe meiden, aus Angst vor dem möglichen Schmerz. Oder noch radikaler: Ich müsste das Leben wegwerfen, aus Angst, es zu verlieren. Das leuchtet mir nicht ein.

Als Christ glaube ich: Gott hat mir das Leben gegeben, damit ich es lebe. Ein Geschenk, aus dem ich etwas machen will – und auch soll.

 

Aber die Frage nach der Freiheit ist damit nicht erledigt. Im Gegenteil: Es ist umso wichtiger, sie zu stellen: Wie frei willst du sein? Und was macht dich frei? Diese Frage trifft mich als jemanden, dessen Leben voller Aufgaben ist und oft voller Zwänge. Das geht anderen auch so: Der Leistungsdruck steigt, der Alltag wird immer hektischer: zu viel, zu voll. Manchmal ist weniger mehr, das ist keine neue Erkenntnis. Das ist eine uralte spirituelle Erfahrung. Sie ist in allen Religionen zu finden. Manchmal ist weniger mehr. Doch diese Erkenntnis hält dem Sog des Wohlstands und dem Druck der Pflichten oft nicht stand. Vor 50 Jahren hatten viele junge Leute diese uralte spirituelle Erfahrung neu entdeckt und verstanden: „Nur weniges ist wirklich wichtig. Wenn ich mich darauf konzentriere, gewinne ich mehr Freiheit.“ Janis Joplin denkt das radikal weiter: Wenn weniger mehr ist, dann ist noch weniger noch mehr. Am Ende ist dann Nichts – eben Alles. Vollkommene Freiheit ist, wenn man nichts mehr zu verlieren hat.

 

Ich glaube aber: Es gibt da etwas, das kann man gar nicht verlieren. Und das ist die Liebe Gottes. Sie ist unverlierbar. Das eigene Leben ist selbst dann nicht zu Ende, wenn es so aussieht. Denn es geht nicht auf in dieser Welt. Es hat noch eine andere Heimat, bei Gott. Jesus sagt es so: „In der Welt habt ihr Angst. Aber seid getrost: Ich habe die Welt überwunden.“ Für mich ist auch das Freiheit: Darauf vertrauen zu können, dass ich nicht verloren gehe. Das ist Freiheit, die aus dem Glauben kommt.

Etwas davon deutet auch Janis Joplin an. Sie kommt in ihrem Song immer wieder auf Gott zurück, spricht ihn direkt an: Lord …

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

Janis Joplin, Me and Bobby McGee, Janis Joplin’s Greatest Hits