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Europaweit wird abends auf den Balkonen geklatscht – für die Alltagsheldinnen, die Leben retten. Die Corona-Krise erinnert daran, dass Pflege systemrelevant ist – wie Lebensmittelversorgung oder Transport. Dass man in all diesen Berufen zu wenig verdient. Und dass 80 Prozent der systemrelevanten Arbeitskräfte Frauen sind.
Das ist alles nicht neu – aber jetzt spricht man über eine Anhebung des Mindestlohns. Und auch eine Corona-Zulage soll her. Und gleich geht der Streit wieder los, wer zahlen soll: Pflegeversicherung, Heimbewohner, Steuerzahler - das übliche Roulette, das seit Jahren Veränderungen verhindert. Weil es eben kostet, die Pflege aufzuwerten, war man jahrelang froh, dass keiner so genau hinsah.
Jetzt, im Scheinwerferlicht der Krise, wird der jahrelange Kahlschlag in der Pflege sichtbar. Und die oft vergessenen Pflegeeinrichtungen geraten ins Rampenlicht. Sie sind abgeschottet, doch es fehlen Masken, Kittel, Tests. Das sorgt für Verunsicherung und Angst. Heime werden zu Hotspots. Pflegende, die arbeiten, werden in der Nachbarschaft kritisch beäugt. Für die einen sind sie Alltagsheldinnen, für andere Todesengel. Auch wenn das abendliche Balkonklatschen Anerkennung ausdrückt - der Heldinnenstatus ist beunruhigend. Ich denke an die italienische Krankenschwester, die nach langem Dienst total erschöpft an ihrem PC eingeschlafen ist. „Wohl dem Land, das keine Helden braucht“, hat Bert Brecht geschrieben.
Florence Nightingale:
„When I am no longer even a memory, just a name, I hope my voice may perpetuate the great work of my life. God bless my dear old comrades of Balaclava and bring them safe to shore. Florence Nightingale.“ (Aufnahme 30.7.1890, London)
„Wenn ich nicht einmal mehr eine Erinnerung bin, nur ein Name, dann hoffe ich, dass meine Stimme die großartige Arbeit meines Lebens aufrechterhält. Gott segne meine alten Kameraden aus Balaklava und geleite sie sicher.“
Die Stimme von Florence Nightingale. Und ich hoffe, sie wird heute wieder gehört. Florence Nightingale ist eine der großen Heldinnen, eine Legende der Pflegegeschichte. Am 12. Mai wäre sie 200 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass hat die Weltgesundheitsorganisation 2020 zum weltweiten „Jahr der Pflege“ erklärt. Das war lange vor Corona – aber plötzlich passt es erschreckend gut.
Florence Nightingale, das ist die „Lady mit der Lampe“, die im Krimkrieg mit Russland nachts an den Betten der verwundeten und sterbenden britischen Soldaten saß. Sie ließ sich Briefe diktieren an Frauen, Mütter, Kameraden, organisierte Finanztransfers, half Sterbenden Abschied zu nehmen. Pflege, Versorgung und Hygiene in den Lazaretten waren katastrophal. Die Männer lagen in blutigen Uniformen unter schmutzigen Decken, obwohl die Vorratslager voll waren mit warmer Kleidung. Siebenmal mehr Soldaten sind im Krimkrieg an ansteckenden Krankheiten gestorben als an kriegsbedingten Verwundungen. Florence Nightingale schrieb:
„Ich bin im Zustand chronischer Wut. Durch das unglaublich primitive Gesundheitswesen sind mehr Menschen umgekommen als durch russische Kugeln und Bajonette“.
Im Lazarett von Scutari, das die Türken damals der Britischen Armee zur Verfügung gestellt hatten, hat sie tatsächlich Übermenschliches geleistet. Im heutigen Üsküdar, einem Stadtteil von Istanbul, steht bis heute das Hauptquartier der 1. Türkischen Armee, die Selimiye- Kaserne. Hier kam Florence Nightingale 1854 mit 38 Pflegerinnen an. Die gesamte Armee stürmte in die Hospitäler, schrieb sie. Über 5000 Verletzte mussten versorgt werden. Dazu kam der Kampf mit der britischen Militärbürokratie, die vor allem ein Ziel hatte – dass keine schlechten Nachrichten von der Krim nach England drangen. Auf die Pflegerinnen hatte keiner gewartet - sie galten zunächst als Störenfriede. Die Frauen mussten sich mit vier kleinen Kämmerchen begnügen - weniger, als ein einzelner Offizier zur Verfügung hatte. Aber mit Geduld und Fleischbrühe, mit Disziplin, Scheuertüchern und Verbänden gelang es Florence, sich Respekt zu verschaffen. Aus der verschmutzten Kaserne wurde ein Militärkrankenhaus mit Sälen für 900 Verwundete. Ohne Verbündete ging das nicht. Es macht eben viel aus, wenn man die Großen zu Freunden hat, schrieb Florence Nightingale.
Jahrelang hatte sie sich auf einen solchen Einsatz vorbereitet. Jetzt, auf der Höhe ihrer Kraft, zeigte sich: sie war eine kluge Managerin, die sich mit den Mächtigen zu verbünden wusste, um ihre Ziele zu erreichen. Ihrem Einfluss auf die Offiziere und Ärzte in Istanbul, später dann auf Militärbehörden und Gesundheitspolitik in London war es zu verdanken, dass die Sterblichkeitsrate in der britischen Armee kontinuierlich sank. Nach dem Krimkrieg bekamen die Soldaten endlich Anerkennung und die Pflegenden genossen Achtung - auf beide Gruppen hatte man lange nur herabgesehen.
Pflege galt als prekärer Job für die Armen. Ohne Ausbildung, ohne Anerkennung. Dass eine hochgebildete Frau aus der Oberschicht eine so niedrige Arbeit tun wollte, war damals geradezu anstößig. Soziale Arbeit war etwas für einfache Leute. Florence Familie aber verkehrte bei Hofe, auf den drei Wohnsitzen arbeiteten 15 Dienstmädchen, dazu Butler, Zofen, Köche, Hauslehrer. Die kleine Flo war bei einer Europareise ihrer Eltern zur Welt gekommen - sie hieß tatsächlich nach der italienischen Stadt, in der sie geboren war. Von Kindheit an sah Florence ihre Berufung in der sozialen Arbeit; sie engagierte sich in der Fürsorge für die Armen, unterrichtete die Kinder aus dem benachbarten Dorf. Als junges Mädchen pflegte sie fast den gesamten Hausstand während einer Grippeepidemie. Seitdem besuchte sie Krankenhäuser überall in Europa, studierte die Berichte, ermittelte das Durchschnittsalter der Patienten, Diagnosen, Bettenzahl, Behandlungsdauer, die Sterblichkeitsrate und die Refinanzierung. Konsequent suchte sie Mentorinnen und Mentoren, die ihr auf den Weg helfen konnten: Sozialreformer aus ganz Europa, Menschen, für die ihre Ideen keine Hirngespinste waren. Denn sie war überzeugt, zur Pflege berufen zu sein. Viermal will sie die Stimme gehört haben, die ganz unmittelbar zu ihr sprach - zum ersten Mal mit 17. Früh schon träumte sie von Theodor Fliedners Mutterhaus in Kaiserswerth.
„Wenn ich Erfrischung suche, lese ich im Jahresbericht der Diakonissenanstalt. Mein Herz ist schon da und ich hoffe, dass ich eines Tages auch dort sein kann“.
1851, sie war schon 31, kam sie endlich ans Ziel ihrer Träume. Drei Monate lernte sie bei Theodor Fliedner, wie man als Pflegerin Zugang findet zu den Herzen der Menschen. Was sie dort erlebte, gab ihr Kraft, den eigenen Weg konsequent weiter zu gehen - auch gegen die Erwartungen ihrer Familie. „Gott hat mich immer mit eigener Hand geführt“, schreibt sie.
1853 verließ sie, eine alleinstehende Frau, ihr Elternhaus und übernahm die Leitung eines Pflegeheims in London. Ein Jahr später brach sie zum Schwarzen Meer auf, um die Aufsicht über zwei Lazarette zu übernehmen. Ihre Schwester Parthenope schreibt:
„Man muss schon glauben, dass sie dazu ausersehen war. Nichts aus ihrem früheren Leben ist vergeblich, nun kommen endlich all die Erfahrungen zur Geltung, die gesammelten Schätze so mancher Jahre, ihre Zeit in Kaiserswerth, ihre Reisen, ihr Studium der Spitalfrage, ihre Kenntnis so unterschiedlicher Geister und Klassen. Sie war innerlich so ruhig und gefasst, als wollte sie zu einem Spaziergang aufbrechen.“
In Kaiserswerth in der Ruine der Kaiserpfalz stehen heute die bronzenen Büsten von Theodor Fliedner und Florence Nightingale. Als 1970 der Grundstein für ein neues Krankenhaus der Kaiserswerther Diakonie gelegt wurde, erhielt es den Namen „Florence-Nightingale-Krankenhaus“. An der Feier nahm auch Prinzessin Anne für das britische Königshaus teil. Gudrun Zimmermann, die spätere Leiterin der Krankenpflegeschule, war als Schülerin damals dabei. Sie sagt zu den Arbeitsbedingungen in der Pflege heute:
„30 Jahre meines Berufslebens konnte ich gestalten, mich an aktuellen sozialpolitischen Strömungen orientieren und den Geburtstag von Florence Nightingale als Tag der Krankenpflege begehen: Projekte veranstalten, andere Schulen einladen usw. Die Curricula der letzten Gesetzgebung haben das unmöglich gemacht. Jetzt geht alles nach Plan! Die tägliche Hetze, die Funktionalität und der Personalmangel in Krankenhaus und Schule verhindern Reflexion und kreatives und selbstbestimmtes Vorgehen.“
Aber Pflege braucht Klugheit und Kreativität, sie ist mehr als ein Handwerk. „Nursing is an art”, schreibt Florence Nightingale in ihrem Buch „Notes on Nursing”.
„Krankenpflege ist eine Kunst, und wenn sie zu einer Kunst gemacht werden soll, bedarf sie exklusiver Hingabe und genauso harter Vorbereitung wie die Arbeit eines Malers oder Bildhauers. Denn was ist der Umgang mit lebloser Leinwand oder kaltem Marmor verglichen mit dem lebendigen Leib, dem Tempel des Geistes Gottes?” (1)
Tatsächlich hatte Pflege für Nightingale auch eine spirituelle Dimension, Florence war eine sehr gläubige Frau. Sie hat ihren Auftrag in der Nachfolge Christi gesehen. Allerdings hat sie die pflegerische Kompetenz dem missionarischen Auftrag vorangestellt. Das zeigte sich in der Zusammensetzung der Schwestern, mit denen sie nach Istanbul aufbrach - neben anglikanischen Schwestern waren auch katholischen Ordensschwestern und weltliche Pflegerinnen darunter. Gudrun Zimmermann sagt aus ihrer Erfahrung mit angehenden Pflegenden heute:
„Helfen wollen, etwas Sinnvolles tun und nicht dauernd am Schreibtisch sitzen, das sind die Motive, warum der Pflegeberuf ergriffen wird. Es gibt eine Sehnsucht nach guten Gesprächen, nach Nähe, nach vertrauensvollem Kontakt. Eine christlich begründete Berufswahl habe ich nicht erlebt. Die Verbindung, die die Mutterhäuser hergestellt haben, dass nämlich Pflege durch christliche Nächstenliebe gespeist wird, das hat der Berufsgruppe der Pflegenden von Beginn des 20. Jahrhunderts an zwar ein hohes Berufsethos beschert, aber wenig Lohn bei zum Teil ausbeuterischen Strukturen.“
Inzwischen sind Pflegedienste und Kliniken zu einem größeren Teil privatisiert. Die Gesundheitseinrichtungen gleichen „weißen Fabriken“, sagt der Medizinethiker Giovanni di Maio (2018). Es geht um Input und Output, Effektivität und Effizienz, Gewinn- und Verlustrechnungen. Ärzte und Pflegende haben gelernt, ihr professionelles Handeln von ihrer Motivation und auch von ihren Gefühlen abzuspalten. Aber ist es zu viel verlangt, sich in dem, was man den ganzen Tag tut, wiederfinden zu wollen? Wer seine Arbeit nur als Job versteht, der sortiert am Ende alles nach Arbeitszeiten und Zuständigkeiten. (2)
Wer aber seine Arbeit als Berufung versteht, der engagiert sich für die Rahmenbedingungen und kämpft darum, dass die eigene Arbeit im Einklang mit den persönlichen Begabungen bleibt. Florence Nightingale hat ihre Arbeit als Berufung verstanden, sie hat dafür gebrannt, mit Leidenschaft und Zorn hat sie gekämpft. Und sie hat die Mächtigen bewegt. Ich bin überzeugt, die Pflege kann noch immer von ihr lernen.
Was ist also zu tun, um den Einfluss der Pflege akut und mittelfristig zu stärken? Denn Klatschen allein genügt nicht. Und auch Heldinnen braucht es nicht.
Schulleiterin Gudrun Zimmermann sagt:
„Pflegenotstand gibt es in meiner Wahrnehmung seit jeher, von allen gewusst und im Kleinen versucht zu verändern. Jetzt zu Corona Zeiten kann nicht wirklich so getan werden, als sei man überrascht. Pflege muss sich politisch organisieren. Wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern und zum Beispiel eine Pflegekammer gründen. Denn noch immer sind die Curricula Medizin-lastig, die staatlichen Examensprüfungen werden von Medizinern des Gesundheitsamts abgenommen und die Weiterbildungen über die Krankenhausgesellschaft abgewickelt.“
Jetzt, in der Corona-Krise, wird der Wert der modernen Medizin sehr bewusst. Zur Zeit von Florence Nightingale spielten Infektionen eine noch größere Rolle, sie selbst infizierte sich 1855 im Lazarett von Balaklawa auf der Krim an einer Virusgrippe. Damals sprach man vom Krimfieber. Sie überstand die Krankheit, gesundheitlich stark angeschlagen. Vom Fieber gezeichnet und mit geschorenem Haar wurde sie erst recht zur bewunderten Heldin. Bei ihrer Rückkehr nach England 1856 wollte man sie groß feiern. Aber den Begrüßungskomitees wich sie aus. Sie ging unerkannt an Land. Wichtiger war ihr der Fonds, der zu ihren Ehren aufgelegt wurde. Er diente der Pflegeausbildung. Was sonst.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
Sense of Hope B, Bulgarian Film Orchestra, Gregor F. Narholz, Invisible Wounds
Literaturangaben:
- McDonald, Collected Works, Bd. 6 (wie Anm. 121), S. 291.
- Catharina Bruns.