Morgenandacht
Was Leib und Seele zusammenhält
04.11.2015 05:35

Was ist das Geheimnis eines langen Lebens? Kein Nikotin? Kein Alkohol, viel Sport? Seit Jahrzehnten untersuchen Wissenschaftler die Lebensbedingungen an den Orten, wo die Menschen besonders alt werden. Das Ergebnis ist meist eine neue Diät. Nach der Entdeckung der Hochaltrigen im Kaukasus züchteten viele Kefir-Pilze in ihrer Küche. Später gab es einen Japan-Hype – mit Sushi und Meeresfrüchten. In den 60er Jahren entdeckte man Roseto, ein kleines Dorf in Pennsylvania. Da war damals die Sterberate bei den unter 65-jährigen besonders niedrig – sie lag 30 – 35 Prozent unter dem Durchschnitt. Zuerst dachte man, es sei das gute Olivenöl – Roseto war ein Dorf italienischer Migranten. Aber dann stellte sich heraus, dass die Leute dort 41 Prozent Fett zu sich nahmen. Auch am Trinkwasser lag es nicht – und nicht an den Genen. Keine Hypothese hielt der Forschung stand. Das Geheimnis von Roseto wurde erst in den 70ern gelüftet. Da war der erste junge Mann schon an einem Herzinfarkt gestorben. Und das Dorf hatte seinen Charakter verloren. Die jungen Leute waren in die Stadt gezogen, man ging nicht mehr regelmäßig zur Kirche und abends aß man nicht zusammen auf der Piazza. Der lange Tisch auf der Piazza, an dem jung und alt sich getroffen hatten, blieb leer. Das war das Geheimnis: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen – aber eben nicht nur wegen der Nährstoffe.

 

Schon wenn Babys gestillt werden, geht es nicht nur um Nahrung. Mutter und Kind erleben intensive Momente der Nähe – mit Blicken und Körperkontakt tauschen sie sich aus. Und der schreiende Säugling kann nicht unterscheiden, ob die Bauchschmerzen, die ihn plagen, Hunger oder Sehnsucht sind. Er spürt nur diese schmerzende Leere. Wir kennen das auch als Erwachsene – [1] die Zeiten, in denen wir nur noch ein inneres Vakuum empfinden. Wenn unser Körper gestresst ist und unsere Seele auftanken muss. Vor lauter Anforderungen in Beruf, Familie, Nachbarschaft haben wir uns selbst verloren. Wir funktionieren noch, aber wir spüren uns nicht mehr – es sei denn mit Schmerzen. Die Mitte fehlt – wie den jungen Leuten aus Roseto, die keine Zeit mehr hatten für die Tafel auf der Piazza.

 

Diese Art von Hunger wird durch Essen nicht gestillt. Jedenfalls durch das schnelle Stressessen nicht. Aber dass Kochen wieder Konjunktur hat, das ist kein Zufall. Viele, die mit Fastfood unterwegs sind oder nur noch schnell beim Discounter vorbeihasten, nehmen sich am Wochenende Zeit für eine selbst gekochte Mahlzeit mit Freunden. Sie wollen einfach wieder spüren, was dran ist – die Jahreszeit wahrnehmen, die Geschichten der anderen hören, sich Zeit nehmen, um wirklich satt zu werden.

 

Mahlzeit – der verstümmelte Gruß auf dem Weg zur Kantine erinnert daran, dass da mal mehr war: „eine gesegnete Mahlzeit“; ja, dass Segen im gemeinsamen Essen liegt. Das gilt auch und vielleicht gerade für die, die allein leben oder kein Geld für saisonale Lebensmittel haben. Bei den internationalen Gärten in meiner Nachbarschaft hat man angefangen, an einem Abend in der Woche Gerichte aus der Heimat zu kochen – türkische, arabische, deutsche – und die anderen dazu einzuladen. Da werden Erinnerungen und Sehnsucht geteilt – wie das dampfende Essen in den Schüsseln. Und eine Gruppe älterer Frauen hat das Essen auf Rädern abbestellt und trifft sich mittags im Gemeindehaus, um füreinander zu kochen. Die Küche ist groß genug. Und die Tafel wird jeden Tag größer. Bald werden sie im Kirchraum decken – das passt gut. Für sich allein hätte sie keine Lust zu kochen – oft nicht einmal Lust, aufzustehen, erzählt eine der Frauen. Aber jetzt gehe sie immer früh zum Markt. Als ich ihr zuhörte, fiel mir ein, dass es im Vater Unser heißt: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ – nicht mein eigenes. Das Brot will geteilt werden, auch und gerade in einer Gemeinde. Der Segen gilt mir nicht allein. Er ermuntert mich, auch selbst für andere da zu sein – beim Kochen, beim Austeilen oder einfach im Zuhören. Denn wir leben eben nicht allein vom Brot. Und die beste Diät reicht nicht für ein gutes Leben.

 

[1] Marco von Münchhausen, Wo die Seele auftankt, Frankfurt 2004