Wort zum Tage
Das Schweigegebot
06.08.2015 06:23

„Redet mit keinem über das, was ihr gesehen habt, sagt es bloß nicht weiter.“ So endet manche Jesusgeschichte. Ein rätselhaftes Phänomen im Markusevangelium. „Messiasgeheimnis“ haben die Theologen es genannt. Jesus gebietet seinen Freunden, zu schweigen von dem, was sie erlebt haben, um sein Geheimnis zu schützen. Er sagt es übrigens auch Menschen, die er geheilt hat, die ein ganz persönliches Wunder erlebt haben mit ihm. „Sagt es nicht weiter.“ Jesus möchte nicht reduziert werden auf einen, der mit Zauberkräften die Welt aus den Angeln hebt. Er möchte auch nicht bestaunt und in den Himmel gehoben werden, um dann ebenso schnell wieder fallen gelassen zu werden. Das Bewunderungsbedürfnis, das Verehrungsbedürfnis der Menschen braucht ja immer wieder neue Kicks. Glauben soll mehr sein als ein Ah! und Oh! des Staunens: „Ja, wenn das so ist, dann gibt es Gott vielleicht doch!“ Glauben ist eher wie ein längerer Weg. Wie das wiederholte Lesen des Evangeliums. Jedes Mal begreife ich ein wenig mehr, freue mich über alt Bekanntes, stoße auf Neues, lese die Geschichten und lese dabei die Welt und mich selbst. Den Messias und sein Geheimnis verstehen kann man nicht nach einer einzigen Wow-Erfahrung! Man muss den Weg zu Ende gehen mit ihm, durch die Tiefen seiner Passion. „Redet mit keinem über das, was ihr gesehen habt, bis der Menschensohn auferstanden ist von den Toten“!

 

Doch im Schweigegebot steckt noch mehr. Es stellt ein Stoppschild auf. Es bewahrt vor dem Zerreden: Es gibt Dinge, über die solltest du erst mal Schweigen bewahren, wenn du sie nicht zu klein machen willst. Sie klingen schnell banal oder kitschig, sobald du anfängst sie in Worten in Worte zu fassen. Irgendwann später, wenn das Schweigen sie wie eine Schutzschicht umgeben hat, ist es vielleicht anders.

 

Es war ein Sonntagnachmittag. Ich war 18 und gerade ein Jahr vorher in Deutschland angekommen. Überglücklich, frei, die ganze Welt stand mir offen. Und zugleich einsam, verlassen. Ein Teil von mir verloren für immer, meine Welt versunken hinterm eisernen Vorhang. Ich saß an meinem kleinen Schreibtisch mit Resopalschrankwand im Erdgeschoß eines Wohnblocks in Ingolstadt. Schaute über meine linke Schulter zum Fenster hinaus in den Himmel. Wolken, Sonne und Wind spielten ihr Spiel von Licht und Schatten und Bewegung. „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende“. Der letzte Satz Jesu aus dem Matthäusevangelium tauchte auf in mir und rührte mich zu Tränen. Ein Strohhalm für meine Seele.

 

Das Webmuster des Glaubens besteht aus solchen kleinen, großen Knotenpunkten. Während ich schwieg, hat Gott sich ganz von alleine ausgebreitet in der Seele.