Wort zum Tage
Keine Liebeserklärung
26.10.2015 05:23

Ein S-Bahnhof im Osten Berlins. Eine viel befahrene Straße. Der Fußweg zu meinem derzeitigen Arbeitsplatz führt über einen immer vollen Parkplatz, durch ein tristes Wohngebiet. Farben gibt es hier wenig. Alles grau in grau. Und dann an der Wand eines Schuppens ein übermannshohes Graffiti. Rot, gelb, schwarz nicht kunstvoll, aber unübersehbar: „Die Bibel. Die größte Liebeserklärung der Welt“ steht da. Seit Wochen schon komme ich jeden Morgen an diesem Slogan vorbei – und jeden Morgen wundere ich mich aufs Neue. Wie kann man es sich nur so einfach machen?! Die Bibel ist keine Liebeserklärung – das wird jeder feststellen, der sie einmal aufschlägt und versucht, darin zu lesen. Vieles wirkt auf den ersten Blick schlicht unverständlich oder doch unwahrscheinlich – für Menschen von heute. Anderes ist vertraut, tief eingesunken in das kulturelle Bewusstsein: „Du sollst nicht töten“. Oder hat Sprichwortcharakter: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als das ein Reicher in den Himmel kommt“. Oder ist politisch wirksam geworden: „Schwerter zu Pflugscharen“. Die Bibel ist eine über Jahrhunderte gewachsen Textsammlung, eher vielstimmige Bibliothek als eindeutige Botschaft. Sie birgt einen immer wieder neu zu hebenden Schatz von Geschichten, Gebeten, Weisheitstexten, Gesetzessammlungen, Liedern, Briefen aus anderen Welten und Zeiten. Jüdisches und christliches Denken sind ineinander verwoben.

 

Wer die Bibel liest, verbindet sich mit ungezählten Männern und Frauen, mit ihren Fragen und Antworten, ihren Irrtümern und Einsichten, ihren Hoffnungen und Träumen. Nicht nur mit den Menschen, die an den Büchern der Bibel mitschrieben haben. Sondern auch mit all jenen, die sich über die Jahrtausende immer wieder um das Verstehen dieser Texte bemüht haben. Und zwar auf der ganzen Welt. Das fasziniert mich. Ich stelle mir gerne vor, ein Teil dieses gigantischen Gedankenstroms zu sein, es berührt mich, zu dieser interkontinentalen Lesegemeinschaft zu gehören. Im 20. Jahrhundert geboren, tauche ich über die biblischen Texte ein in einen Kosmos, einen geistiger Raum, der meinen eigenen Horizont weit übersteigt. Da sind Welten hinter meiner Welt, die ich erkunden kann. – Nein, die Bibel ist keine Liebeserklärung. Selbst wenn einer ihrer Autoren geschrieben hat: Gott ist die Liebe. Und selbst, wenn er wahrscheinlich Recht hat damit. – Trotzdem ist die Bibel keine Liebeserklärung. Sie ist eher eine Herausforderung.