Wort zum Tage
Trümmer und Narben
30.10.2015 05:23

Februar 1990. Ich fror. Innen und außen. Ich war Mitte zwanzig, das erste Mal in Dresden und stand nun vor diesem Trümmerberg im Herzen der Stadt: der Ruine der Frauenkirche. Im Feuersturm der Bombennacht im Februar 1945 schwer beschädigt, stürzte sie am folgenden Tag in sich zusammen. Dieser ferne Krieg, der das Leben meiner Eltern und unzähliger Menschen zum Einstürzen gebracht hatte, rückte mir noch einmal anders nahe. Auf solchen Trümmern – sichtbaren und unsichtbaren - ruht das Fundament der Gegenwart - dachte ich. Und: Nie wieder Krieg.

Der riesige Schutthaufen, aus dem zwei Wandreste heraufragten, galt seit 1966 auch in der DDR als offizielles Mahnmal gegen den Krieg. Versuche, an seiner Stelle einen Parkplatz zu planieren, waren am Widerstand der Bevölkerung gescheitert. Im Februar 1982, auf dem Höhepunkt der aufrüstungskritischen Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“, riefen Dresdner Christen zum stillen Gedenken gegen den Krieg an den Trümmern der Frauenkirche auf. Versuche staatlicher Stellen, diese dann jährlich stattfindenden Treffen zu verhindern, blieben erfolglos. Und nun, 1990, im Februar, stand ich dort und dachte: Gut, dass es diesen Trümmerberg immer noch gibt. Das ist lange her. 25 Jahre.

 

In diesen Tagen feiert man in Dresden die 10jährige Kirchweihe der neuerbauten Frauenkirche. Nach Trümmerberg und Großbaustelle erhebt sich in barocker Pracht die alte Silhouette. Vom Mahnmal gegen den Krieg spricht heute niemand mehr. Stattdessen von einem Symbol für Versöhnung und Frieden. Spender und Fördervereine aus der ganzen Welt haben den Wiederaufbau  ermöglicht, unter ihnen auch ehemalige Bomberpiloten, die an der Zerstörung Dresdens beteiligt waren. Trotzdem: Ich verfolgte den Bauprozess damals aus der Ferne mit gemischten Gefühlen. Ist es nicht gut für eine Gesellschaft, wenn sie auf öffentlichen Plätzen an die Katastrophen ihrer Geschichte erinnert wird? Kann es gelingen, dass die neue alte Kirche eine Versöhnungskirche wird und nicht Symbol einer Schlussstrichmentalität?

Und wenn ich heute auf dem Dresdner Neumarkt stehe und die prächtige Fassade der Frauenkirche auf mich wirken lasse? Ich vermisse den Trümmerberg nicht - er ist noch da. Nicht nur in meiner Erinnerung. Er hat sichtbare Spuren hinterlassen: Das sandsteinhelle Gemäuer der Kirche hat viele dunkle Stellen. Das sind die alten Steine, die aus den Trümmern geborgen und beim Aufbau mitverbaut wurden. Fast dreieinhalbtausend an der Zahl. Sie verbinden den neuen Bau mit den alten Zeiten. Man muss nur genauer hinsehen. Die neue alte Frauenkirche hat Narben. Ja, Überlebende haben Narben – sichtbare und unsichtbare. Aber wer seine Narben zeigen kann, ist noch am Leben.