Morgenandacht
Größe durch Demut
14.12.2016 05:35

Du darfst dir keine Blöße geben. Wehe, du gibst einen Fehler zu, dann wirst du drauf festgenagelt und bekommst keine Chance mehr. Das höre ich immer wieder. Und manchmal stimmt das auch. Von wegen Fehlerfreundlichkeit!

Dabei ist es noch gar nicht lange her, da haben unsere Eltern und Großeltern in einen Abgrund von Schuld geschaut. Am deutschen Wesen sollte die Welt genesen. Der Führer sollte Deutschland wieder groß machen. Großdeutsches Reich. Und alle, die im Weg standen: Juden, Sinti und Roma, Kommunisten und Homosexuelle, Oppositionelle und Behinderte, die wurden einfach vertrieben oder ermordet. Dieser totale Krieg führte zur totalen Zerstörung und bedingungsloser Kapitulation.

Nur 71 Jahre ist das her. Aber geht man heute ins Ausland, dann hört man, dass Menschen von Deutschland schwärmen. Auch viele Israelis tun das. Zuerst dachte ich, sie bewundern unsere Wirtschaftskraft. Aber das ist nicht der Hauptgrund.

Viele Israelis schicken ihre erwachsenen Kinder nach Deutschland. Und die machen gern mal Party. Zum Beispiel in Berlin. Und schauen sich bei der Gelegenheit die Heimat ihrer Großeltern an. Sie suchen die Straße und das Haus, wo die gewohnt haben, bevor die Gestapo sie abgeholt hat. Bevor sie im Konzentrationslager umgekommen sind. Die jungen Leute finden das Haus der Großeltern und entdecken davor, auf dem Gehweg einen golden glänzenden Stein. Ein Stein mit dem Namen ihrer Großeltern drauf. Und dem Datum, an dem sie abgeholt wurden oder umgekommen sind im KZ. Wieder zurück in Israel erzählen sie ihren Eltern von diesen Stolpersteinen. Und sie erzählen von den Mahnmahlen und Gedenkstätten und dass die Deutschen die Erinnerung an ihre Schuld pflegen. Und das berührt viele Israelis und verändert ihre Beziehung zu uns Deutschen.

Demut ist eine große Stärke. Eine Stärke, die wir gar nicht groß genug schätzen können. Oft könnte man ja den Eindruck haben: alle, die zu uns kommen oder etwas von uns wollen, sehen vor allem unseren wirtschaftlichen Erfolg. Wollen Anteil haben an Wohlstand und Wirtschaftskraft. Als wäre wirtschaftliche Stärke das einzige und wichtigste, was ein Land zu bieten hätte. Aber dem ist nicht so. Es gibt auch noch die Kraft der Demut und den Geist der Versöhnung.  Wenn nämlich ein Volk zu seiner Schuldgeschichte steht, wenn es daraus lernt für die Zukunft und wenn es lernt damit zu leben.

Vor einigen Jahren war ich zu Besuch bei Palästinensern in der Westbank. Da hat ein Bürgermeister mich angesprochen und gesagt: „Ihr Deutschen könnt uns helfen!“

Auch hier dachte ich zuerst an wirtschaftliche Unterstützung. Aber das hat er nicht gemeint. Er hat mir erzählt von der furchtbaren Verstrickung von Schuld, in der Palästinenser und Israeli leben. Und er endete mit dem Satz. „Ihr Deutschen wisst, wie es ist, wenn man schuldig wird und wie man mit seiner Schuld leben kann. Deshalb könnt ihr uns zeigen, wie wir da wieder rauskommen.“

Das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Und hat mich erinnert an einen Satz Jesu: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Ich verstehe den Satz so: Wer zu seiner Schuld steht, der darf darauf hoffen, dass Gott ihn aufrichtet und hilft, mit dieser Schuld zu leben. Wer die Frage nach der eigenen Größe Gott überlässt, dem schenkt Gott Schutz und Trost und einen aufrechten Gang.

Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges haben wir Deutschen darauf verzichtet, uns selber groß zu machen. Wir haben uns ein Grundgesetz gegeben, uns dazu verpflichtet, niemanden aufgrund seiner Religion, Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Orientierung zu diskriminieren. Wir haben darauf verzichtet, uns besser zu fühlen als andere. Sogar als Fußballweltmeister.

Unsere Geschichte legt ein beredtes Zeugnis ab von der Kraft der Demut. Von der Kraft der Versöhnung, die darin liegt, Verantwortung zu übernehmen auch für das, was unsere Vorfahren Anderen Menschen und Völkern schuldig geblieben sind.

Demut gehört für mich zum Kernbestand christlicher Kultur. Christen glauben daran, dass Gott ihnen vergibt und ihnen immer wieder eine neue Chance gibt. So lange wir das Anderen weitergeben, bin ich stolz auf unser Land. Ja, Demut erhöht ein Volk.