Pflegerin hilft einer Bewohnerin beim Trinken in einem Altenheim
© epd-bild/Werner Krueper
Barmherzige Samariterinnen
Kirche, Pflege und Politik
07.01.2018 07:35
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Der Anruf aus dem Krankenhaus hat mich lange nicht losgelassen: „Und Sie reden vom Barmherzigen Samariter – aber für meine Frau haben Sie nicht mal Wasser“ schimpfte der Mann. Es war Abend, Feierabend eigentlich, und ich saß zu Hause am Schreibtisch. Aber weil ich für ein Diakonie-Unternehmen zuständig war, war nie so ganz Feierabend – denn im Notfall konnten einige Dienststellen auf meine Privatnummer durchstellen. Wenn jemand starb und niemand aus der Krankenhausseelsorge erreichbar war, wenn es irgendwo brannte, bei einem Unfall oder eben jetzt – als ein Angehöriger so gar nicht zu beruhigen war. „Und Sie reden vom Barmherzigen Samariter – aber meine Frau hat nicht mal Wasser auf dem Nachtisch.“ Der Mann war wütend, aber eigentlich tief enttäuscht, weil unser Handeln so gar nicht mit dem Anspruch übereinstimmte. Mit unserem diakonischen Profil.

 

Was war passiert? Es gab natürlich Wasser – in regelmäßigen Abständen kam ein spezieller Service über die Stationen – aber neuerdings mussten die Patienten dafür zahlen. Die Buchhaltung hatte errechnet, dass die Kosten für das kostenlose Wasser sich zu einer ganzen Pflegestelle summierten. Und die Krankenhausleitung hatte entschieden, eine Pflegekraft mehr einzustellen. Eigentlich eine gute Entscheidung – denn die Pflege arbeitete schon damals hart an der Grenze der eigenen Kräfte. Aber der Ärger darüber wurde immer lauter – und schwer zu ertragen für die Mitarbeitenden auf der Station. Bis er sich in diesem wütenden Anruf bei mir entlud. Die Entscheidung wurde revidiert, das Wasser gab’s fortan wieder umsonst, aber seitdem achte ich noch sensibler auf die Risse im diakonischen Handeln – die Risse zwischen Anspruch, Erwartungen und Möglichkeiten.

 

 

 

An den wütenden Anruf erinnert hat mich die biblische Losung für das neue Jahr 2018. „Ich will dem Durstigen geben aus der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ Es stimmt ja: Wasser ist ein elementares Symbol für das Nötigste – Lebendigkeit, Vitalität, Zuwendung, ohne die niemand leben kann. Dass wir damals Wasser und Pflege verrechnet hatten, das irritierte nicht nur meinen Anrufer. In einem Diakonissenhaus machte man sich früher keine Gedanken über die Kosten der Pflege. Diakonissen arbeiteten ja umsonst – naja, nicht ganz – sie waren gut versorgt und sie lebten in einer Gemeinschaft, die trug.

 

Pflegende in Deutschland müssen sich im Schnitt um 13 Patienten kümmern. In den USA kommen durchschnittlich 5,3 Patienten auf eine Pflegefachkraft, in den Niederlanden 7 und in der Schweiz 7,9. Gesetzlich festgelegte Mindestschlüssel können Arbeitsüberlastung und Qualitätsmängel lindern – auch in Deutschland. Die Probleme sind drängend auch für die politische Agenda. Trotz der Pflegestrukturreform im letzten Jahr wird immer deutlicher, dass die Pflege unterfinanziert ist. „Wir haben jetzt schon einen Notstand – aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was kommt“, sagt der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden 30 Jahren von rund drei Millionen auf fünf Millionen Menschen steigen. Ausgehend vom heutigen Verhältnis der in der Pflege Beschäftigten zu den Pflegebedürftigen tut sich bis zum Jahr 2030 eine Lücke von 350.000 Vollzeitstellen auf.

 

Eine Reihe von Pflegekräften haben aus dem Mangel und den schlechten Arbeitsbedingungen schon jetzt ihren Schluss gezogen und sich selbständig gemacht. Auf dem leer gefegten Markt sind Selbständige oft die letzte Rettung. Sie werden engagiert, wenn auf der Station ein Engpass ist, aber sie bestimmen ihre Zeiten selbst – machen vielleicht keinen Nachtdienst, arbeiten nicht am Wochenende oder nur, wenn die Kinder in der Schule sind. Der Rest muss dann von den fest Angestellten aufgefangen werden. Selbständige Pflegekräfte sind der konsequente Endpunkt der Entwicklung weg von der Institution und hin zur Individualisierung und vom Krankenhaus zum Gesundheitsdienstleister.

 

Weil auch selbständige Pflegekräfte im Vergleich zu Ärzten oder IT-Kräften wenig verdienen, sorgen sie wenigstens für ein gutes Zeitmanagement und achten auf Entlastung, wenn sie sie brauchen. Allerdings lässt sich eine Station so kaum managen; hier greift eins ins andere und alles hängt an einer guten Abstimmung. Dass das in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen überhaupt noch funktioniert – dass Menschen bereit sind, sich für andere einzusetzen, sich miteinander abzustimmen, Beruf und Familie irgendwie unter einen Hut zu kriegen, das ist alles andere als selbstverständlich. Aber Pflege braucht eine Hilfekette – das zeigt sich schon in der Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Die meisten kennen sie noch – so wie der wütende Angehörige bei mir am Telefon. Der Samariter macht die Erstversorgung bei dem, der unter die Räuber gefallen war. Er wäscht und verbindet seine Wunden und hebt ihn auf sein Reittier. Aber dann bringt er ihn zu einer Herberge, damit er dort gesund gepflegt wird. Und er lässt dem Wirt Geld dafür da – umsonst war Pflege auch damals nicht.

 

Ich verstehe, dass manche sich zurücksehnen nach den Diakonissen und Diakonieschwestern. Sie hatten Zeit für ein Gespräch zwischendurch, Zeit auch am Sterbebett zu sitzen – aber das hatte eben auch seinen Preis. Zum Schwestersein gehörte der Verzicht auf Familie und Privatleben und lange Zeit auch auf ein eigenes Einkommen. Pflegende waren und sind es gewohnt, sich selbst zurück zu stellen. Und viele erwarten das auch, erwarten Überstunden und dauernde Verfügbarkeit bis zum Burnout. Die Verweildauer im Beruf ist deshalb kurz, von „Bettenflucht“ ist inzwischen die Rede, und nicht wenige gehen ins Ausland, wo bessere Arbeitsbedingungen herrschen.

 

Die gesetzlichen Vorgaben für Pflegeschlüssel in den USA und Australien sind auf Kampagnen der Gewerkschaften und Berufsverbände zurückzuführen. „Wir können nicht von den Politikern erwarten, dass sie irgendetwas in der Pflege ändern, wenn wir selbst nicht einfach mal aufstehen, den Mund aufmachen. Es ist ganz in Ordnung, dass man sagt, Pflege muss laut sein. Aber nicht nur laut sein, sondern einfach mal sagen: Nein! Das mache ich nicht!”, sagt Claudia Hanke, eine der Gründerinnen von CareSlam. CareSlam bietet seit 2015 eine Plattform für Menschen, die eng mit der Pflege verbunden sind. Die über Missstände, Personalmangel und die Zwänge der Ökonomisierung in der Pflege sprechen möchten.

 

Tatsächlich hat es lange gedauert, bis bei uns Pflegende selbst ganz unüberhörbar für eine gute Pflege eintraten. Die Rechte der Pflegekräfte mussten Stück für Stück erkämpft werden: Eigenes Einkommen, Berufsfreiheit, Familie, Studium, das Recht auf Streik – leider auch gegen die Kirche. Heute, wo Pflege eine Dienstleistung ist wie andere auch, geht es darum, den Wert der Pflege wieder ins Bewusstsein zu rufen. Vielleicht tragen ja die Impulse aus dem Wahlkampf weiter. Noch im Januar soll ein fraktionsübergreifendes Sofortprogramm in den Bundestag eingebracht werden: mit einem klar definierten Betreuungsschlüssel und der Neueinstellung von 25.000 Pflegekräften in Krankenhäusern, damit nachts keine Pflegekraft auf einer Station allein ist.

 

 

 

Mathias Düring erinnert auf Care-Slam: „Bei aller Konkurrenz, bei allen Sticheleien zwischen den verschiedenen Abteilungen wegen des wirtschaftlichen Drucks durch höhere Fallzahlen und weniger Personal, dürfen wir alle nicht vergessen: es geht immer um die Menschen, die vor uns liegen. Sie legen uns ihre Gesundheit, manchmal auch ihr Leben, aber auf jeden Fall ihre Würde in die Hände. Dabei spielt es keine Rolle, ob schwarz, weiß, rot oder gelb. Moslem, Jude, Christ, Hindu, Buddhist oder Zeuge Jehovas. Die Würde bleibt unantastbar und gehört in diesem speziellen Bereich besonders geschützt.”

 

 

 

Das erinnert mich noch einmal an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, der ja im damaligen Israel ein Fremder war. Anders als der Priester und der Levit in der Geschichte sieht er den Verletzten. Und er bleibt stehen. Vielleicht hat er einen besonders guten Blick für die Würde des Anderen. Jedenfalls spürt er, was in diesem Moment das Wichtigste ist. Und tut es. Keine große Sache eigentlich; er gibt sich dabei nicht selbst auf. Im Gegenteil: er wäre ja froh, wenn er genauso behandelt würde – auch wenn er nur ein Fremder ist. Kann es sein, dass diese einfache Menschenliebe in unserer Gesellschaft vor die Hunde geht? Wenn Bankkunden einfach über einen Ohnmächtigen steigen? Wenn Bewohnerinnen und Bewohner in Altenheimen stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen?

 

„Wir müssen reden: Über unseren Alltag. Über unsere Sorgen, unsere Verzweiflung und unsere Wut. Aber auch über unsere Freude, die Erfolge und unsere Leidenschaft. Darüber, was wir können und leisten und darüber, was wir gerne tun würden – wenn man uns nur ließe“, heißt es auf der Careslam-Plattform. Endlich vernetzen sich Menschen, die an der Pflege beteiligt sind – Altenpfleger, Krankenschwestern und auch pflegende Angehörige. Immerhin 1,4 Millionen Menschen werden zu Hause gepflegt. Die Töchter und Schwiegertöchter, die die kranke Mutter über Jahre pflegen, die Männer, die ihre Frauen pflegen – sie verzichten auf eigenes Einkommen und Karriere und werden oft nicht einmal gesehen. Sie verschwinden einfach aus dem Kollegen- und Freundeskreis, haben keine Zeit und kein Geld mehr für Einkaufsbummel und Geburtstagsbesuche, für Urlaub oder den Friseur. Bis zu acht Jahren dauert die häusliche Pflege im Durchschnitt. Die IG Metall hat ihre Mitglieder 2017 gefragt, wie Beruf und Familie vereinbar sind. Da zeigte sich: 84 Prozent der Befragten fordern eine finanzielle Unterstützung für diejenigen, die wegen Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen ihre Arbeitszeit reduzieren müssen. Genauso wichtig ist die direkte Unterstützung: Haushalts- und Einkaufshilfen und Nachbarschaftsnetzwerke.

 

Es braucht eine gut abgestimmte Hilfekette. Persönlich und politisch. Ethisch und ökonomisch. Viele Angehörige sind am Ende ihrer Kräfte, wenn Pflegebedürftige dann ins Krankenhaus oder in ein Heim kommen. Wie der Mann, der mich damals anrief. „Und Sie reden vom Barmherzigen Samariter“.

 

„Das Paradies beginnt beim Nachbarn“, schreibt der Pfleger Lutz Müller-Bohlen bei Care-Slam.

Ewiges Leben, wirkliche Lebendigkeit wird spürbar, wenn wir einander zum Nächsten werden, sagt Jesus mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Pflegende wissen das – darum lieben sie ihren Beruf. Aber sie wissen auch, dass das Leben ein Wechsel von Geben und Nehmen ist – Zuwendung und Loslassen, für andere und für sich selbst sorgen. „Wenn Du vernünftig bist, dann zeige Dich als Schale und nicht als Kanal“, schrieb der Zisterzienser-Abt Bernhard von Clairvaux. „Die Schale ahmt die Quelle nach: Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss. Du tue das gleiche. Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Wenn Du nämlich mit dir selbst schlecht umgehst, wem bist Du dann gut? Ich möchte nicht reich werden, wenn Du dabei leer wirst.“

 

Ich fürchte, das ist das Problem unserer reichen Gesellschaft: die Pflege läuft leer – weil die Angst groß ist nur abzugeben. Wer zu den herrschenden Bedingungen in der Pflege arbeitet, kann das nicht auffangen. Wenn wir zum Beispiel die Altenpflege wie die Krankenpflege bezahlen würden, müsste der Beitragssatz um 0,5 Prozentpunkte steigen. Ist das die politische Hürde? Ich denke, die Zukunft unserer Gesellschaft hängt entscheidend davon ab, wie wir mit der Menschenwürde der Pflegebedürftigen umgehen. Und mit der Liebe der Pflegenden. Irgendwann spürt jeder wie elementar das ist. Wie das Wasser, das unseren Durst stillt, uns aufrichtet und neue Kraft gibt. „Ich will den Durstigen geben aus der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ (Offb 21,6) Die Jahreslosung für 2018 will ich so lesen: Gott schaut auf die, die am Boden liegen und ausgebrannt sind. Tun wir es auch.

 

 

  1. Internationale Vergleichsstudie aus dem Jahr 2012. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/73008/Personalschluessel-in-der-Pflege-Andere-Laender-machen-es-vor

 

CareSlam: https://www.careslam.org/presse-index/