Klaviertastatur
Gemeinfrei via unsplash.com (Francisco Moreno)
Musik gegen den Gedächtnisverlust
08.04.2018 08:35
Sendung nachlesen:

Jörg Becker spielt auf dem Klavier „Der Mai ist gekommen“, ein Lied, das der Pfarrer Justus Wilhelm Lyra erst im 19. Jahrhundert komponiert hat. Aber es ist so vertraut wie ein altes Volkslied. Und so singen sechzehn alte Menschen fröhlich mit. Becker arbeitet mit solchen, die in Heimen wohnen, auch mit jenen, die an Demenz leiden. In dieser Runde ist die Älteste 97, die meisten übrigen Männer und Frauen sind nur wenig jünger. Manchen fallen noch ganze Strophen ein, anderen nur ein paar Bruchstücke. Dann summen sie zur Melodie. Wer nicht singt, lächelt und freut sich still an den Erinnerungen, die die Musik in ihm wachruft. Sie alle wohnen im Erich-Raddatz-Haus in Berlin-Neukölln, einer Senioreneinrichtung der evangelischen Kirche. Jeden Donnerstagvormittag treffen sie sich mit dem Kirchenmusiker Jörg Becker, hören und machen gemeinsam Musik. Jörg Becker erzählt ein wenig zu dem Lied, das er gerade gespielt hat, vergleicht es mit einem älteren Mailied und sagt dann:

 

Jörg Becker:

So jetzt haben wir ein altes Mailied gehört und ein Mailied aus der Romantik und genau dazwischen liegt ein Mailied, das gar keins ist von Wolfgang Amadeus Mozart, da ist der Mai nämlich noch gar nicht da.

 

Das Mozartlied „Komm lieber Mai und mache“ ist für Jörg Becker die Überleitung zum eigentlichen Thema, zur Oper „Die Entführung aus dem Serail“, die er gerade in seinen „Klassik-Runden“ für Senioren vorstellt, am Donnerstag hier im Erich-Raddatz-Haus und am Montag im Simeonhaus, einer anderen evangelischen Einrichtung. Er gibt Querverweise auf Literatur und auf andere Kompositionen, stellt Bezüge zum Leben der alten Menschen her und ist immer bereit, deren Reaktionen aufzunehmen und auf unvorhergesehene Situationen zu reagieren. Das kann ein Erinnerungssplitter, ein plötzlich aufwallendes Gefühl sein oder ganz banale Umstände. So kann es vorkommen, dass ein Mann oder eine Frau aus der Runde später kommt oder früher geht, weil sie zum Arzt müssen oder einen Friseurtermin haben. Das stört hier nicht. Beinahe spielerisch wird darauf reagiert und ebenso locker gibt Becker historische Informationen zur Musik oder erläutert stilistische Feinheiten und weist auf besonders berührende Passagen hin. Denn:

 

Jörg Becker:

Es geht mir nicht darum, Wissen zu vermitteln oder ähnliches, das läuft vielleicht ganz nebenbei ab und trägt vielleicht auch mit dazu bei, den Rahmen als niveauvoll zu empfinden, was ich auch wertvoll finde, weil das hat alleine schon Würde, das Gefühl zu haben, ich bewege mich in einem anspruchsvollen Rahmen, aber es ist eben tatsächlich so, dass dann eben auch entsprechende Erinnerungen geweckt werden, wenn bestimmte ... Musik erklingt und dass auch diese Dinge vertieft werden können.

 

 

Um ein tiefes Erleben mithilfe der Musik geht es Jörg Becker. Und dazu sind aus seiner Sicht gerade ältere Menschen fähig. Sie haben ein reiches Innenleben, das durch Musik angesprochen und zum Schwingen gebracht werden kann. Klassische Musik ist neben Volksliedern dafür besonders geeignet, weil sie ...

 

Jörg Becker:

... die menschliche Seele sehr sehr stark berührt und ... alle diese unterschiedlichen Facetten unseres Denkens und Fühlens beinhaltet, so dass also über die klassische Musik ein Kontakt hergestellt werden kann. Und ich genieße es ehrlich gesagt sehr, auch diesen ganzen unterschiedlichen Menschen mit ihren Erfahrungen zu begegnen, die im Grunde jetzt genau dafür Zeit haben, sich sozusagen ihrem Innenleben wieder zuzuwenden, die also nicht in irgendeinem Zusammenhang der Gesellschaft stehen, der sie davon eben sehr stark ablenkt. Und ich versuche auch, das zu unterstützen, also auch zu vermitteln, dass das eine eigene Qualität ist und dass jede Lebensphase ihre eigenen Qualitäten einfach hat und dass das hier auch eine bestimmte Art zu leben ist mit ihren starken Seiten und Vorzügen.

 

Viel Musik haben sich die Senioren schon mit Jörg Becker erschlossen: Volkslieder aller Art, klassische Ballettmusik, die französische Oper, Puccini und manches mehr. Was immer in der Runde Gegenstand des Hörens, Redens und Erlebens ist, Becker verfolgt dabei nie ein starres Konzept. Er bleibt offen für Einwürfe und Anregungen. Das gilt auch für die Wahl der Musik. Gern stellt er Lieblingskomponisten der Heimbewohner vor und lässt sich durch sie auf musikalische Ausdrucksweisen ein, die ihm ursprünglich nicht so gelegen haben.

 

Jörg Becker:

Ich hab die Operette vorher ehrlich gesagt nicht so geschätzt, inzwischen liebe ich sie tatsächlich richtig, was einfach damit zu tun hat, dass ich die Ernsthaftigkeit der Empfindungen in den Menschen erlebe in dem Moment, wo die Operettenmelodien erklingen, das hat mir also tatsächlich die Operette erst richtig aufgeschlossen. Schwer tat ich mich mit dem Schlager, auch den lern ich so langsam schätzen, also zum Beispiel die Tatsache, dass die Schlager von verschiedenen Ländern eben auch handeln, in die man sich hinein träumen kann. Das ist zum Beispiel eine wichtige Sache auch bei der Arbeit mit Menschen mit Demenz, also dann kann man, wenn man da das richtige Lied trifft, vielleicht auch anknüpfen an Erinnerungen, an frühere Reisen. Das ist schon auch eine Qualität, die ich jetzt erst im Laufe dieser Arbeit schätzen gelernt habe.

 

Anknüpfungspunkte durch Melodien, Rhythmen, musikalische Stimmungen und Liedtexte

sorgen dafür, dass die alten Menschen mit dem Schatz ihrer Erinnerungen und Gefühle in Austausch treten können. Denn ...

 

Jörg Becker:

... es geht darum, in diesem Augenblick etwas zu erleben ... Da kann dann der Reichtum der Erfahrungen einfach einfließen, der ist dann wie so ein assoziativer Anknüpfungspunkt, das ist so ähnlich wie meinetwegen, man wandert in der Jugend viel und irgendwann, wenn einem das wirklich wichtig war oder wenn man alles gesehen hat, gefühlt hat, wahrgenommen hat, dann ist es innen und durch diese Verwandlung ist es aber jetzt wieder gegenwärtig, es ist dann eben nicht einfach die Erinnerung an irgendein vergangenes Ereignis, sondern es ist dann eigentlich gegenwärtiges Erleben. Da ist eine Verknüpfung dann einfach ... zum ganzen Leben, zum ganzen Sein, es ist dann eins, ... es ist dann nicht mehr dieses zeitliche Nacheinander, es ist nicht tote Vergangenheit.

 

So kommen einmal Erlebtes und das aktuelle Erinnern, das die Musik hervorruft, zusammen und schaffen eine ganz eigene Art von Erlebnis. Ein Erlebnis, das die Senioren nicht mehr missen möchten.

 

Eine Teilnehmerin der Runde:

Diese eine Stunde in der Woche ist so schön für mich und auch für andere. Das ist eine Stunde, wo man vergessen kann, dass man krank ist, dass es einem schlecht geht. Er bringt uns dazu zu singen, er bringt uns die klassische Musik näher.

Ich finde das wunderbar. Also Herr Becker ist für uns ... eine Wohltat und ich hoffe, ich kann es noch lange genug erleben.

 

In der Klassikrunde von Jörg Becker sind nur relativ wenig Menschen mit Demenz dabei. Denen, die mit der Krankheit leben müssen, widmet er sich in besonderer Weise.

 

Jörg Becker:

Ich geh ... mit dem Akkordeon auf die Wohnbereiche. Wenn zwei, drei dort zusammen sitzen, setze ich mich dazu, fange einfach an, das eine oder andere Lied zu spielen, dann kommen andere vielleicht noch dazu und dann ergibt sich da so eine Runde. Und dann nimmt es so einen eigenen Weg, indem ich einfach darauf achte, bei welchen Liedern ist die stärkste Resonanz. Und dann moderiere ich so ein ganz kleines bisschen zwischendurch. Wir sind dann meinetwegen im Wald und im Wald gibt es dann eben auch den Jäger und dann kommt der Jäger aus Kurpfalz und was kann man noch im Wald machen und so weiter und so fort. Und ich merke dann: so heiß oder kalt praktisch, also wo gibt es starke Reaktionen, wo nicht so und dementsprechend fällt dann auch die Liedauswahl aus.

 

Oft geht Jörg Becker mit seinem Akkordeon auch zu einzelnen Bewohnern auf ihre Zimmer.

Manchen genügt schon der Klang des Instruments als Heimat für ihre Gefühle. Bei anderen sind es Lieder, die sie selbst einmal gesungen haben. So bei einem ehemaligen Sänger.

 

Dass Menschen, deren Geist zunehmend verwirrt ist, über die Musik so berührbar und ansprechbar sind, hat auch damit zu tun, dass für den Kirchenmusiker Jörg Becker der Geist viel mehr ist als ein messerscharfer Verstand. Er glaubt, ...

 

Jörg Becker:

... dass der Geisteszustand, in dem sich ein Mensch befindet, noch mal ... etwas ganz anderes zu sein scheint als dieses äußerlich korrekte Erinnern oder Durcheinanderwerfen von Fakten, also ich erlebe immer wieder, dass die Menschen im Grunde sich in dem Geisteszustand befinden, den sie sich ... ihr Leben lang erarbeitet haben ..., der sozusagen im Lauf des Lebens entstanden ist durch reiche Erfahrungen. Es bleibt derselbe Mensch. ... Jenseits dieses Themas der faktischen Erinnerung finde ich also einen Zugang zu dem geistig-seelischen Leben dieses Menschen. Und das finde ich sehr sehr bemerkenswert, dass diese tiefe Schicht davon eigentlich nicht betroffen ist.

 

Bei vielen dementen Menschen, deren geistige Fähigkeiten schwinden, entdeckt Becker eine besondere menschliche Tiefe.

 

Jörg Becker:

Es gibt Menschen, die sind in Frieden, egal, ob sie sich jetzt an irgendwelche Fakten erinnern, ob sie die Fakten durcheinander werfen im Zuge dieser Krankheit, aber in einem tieferen Sinn sind sie geistig-seelisch im Frieden und gehen auf eine sehr friedfertige Weise an das Leben heran. Also es gibt Menschen mit Demenz, deren geistigen Zustand empfinde ich als ganz enorm reif, ... da hab ich das Gefühl, wir, die wir uns an zumindest vieles, alles sicher nicht, erinnern, nicht von dieser Krankheit betroffen sind, die wir also klar über diese Fähigkeiten verfügen, unbeeinträchtigt, haben trotzdem nicht diese geistige Reife, haben nicht diesen inneren Entwicklungsweg genommen, haben nicht diesen Frieden gefunden. Und ich finde das faszinierend, wie das vollkommen unbeeinträchtigt von der Krankheit der Demenz einfach im Wesen des Menschen da ist.

 

Viel kann die Musik dazu beitragen, die Reife dieser Menschen, ihr reiches Innenleben zum Klingen zu bringen. Sie kann Menschen, egal welchen Alters glücklich machen. So jedenfalls hat es die Praktikantin Tahani Iraki erfahren.

 

Tahani Iraki:

Das ist mir bei einer Bewohnerin mal aufgefallen, da bin ich etwas zu früh zu ihr nach unten gegangen und wollte sie abholen. Ihr Morgen hatte auch nicht so gut angefangen. Sie erzählt, dass die Schwestern ihr das Frühstück zu spät gebracht haben und so… da war sie schon sehr sauer. Und da hab ich gefragt, naja vielleicht muntern Sie sich ja jetzt ein bisschen auf, wenn Sie bei Herrn Becker oben sind bei der Musik. Und dann war sie da oben und dann war sie auch total glücklich und sie fiebert dann auch extrem mit und wiegt mit und klatscht mit. Das ist auch immer schön zu sehen, wie sich die Leute dann einmal so drehen. Sozusagen von schlechter Laune zu guter Laune. Und das hab ich ihr dann auch gesagt, dass man ihr das angesehen hat und dass ich das schön finde.

 

Es gilt das gesprochene Wort.