Wehende Haare im Auto
Gemeinfrei via unsplash.com (Averie Woodard)
Was hält Menschen am Leben?
Die Geschichte der Lucy Jordan
16.09.2018 08:35
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Je älter ich werde, desto mehr bedeutet mir mein Leben und desto besser passe ich darauf auf. Das ist nicht selbstverständlich, denn statistisch gesehen steigt die Zahl derer, die nicht mehr leben wollen, mit zunehmendem Alter immer mehr an.

 

Doch auch junge Menschen denken darüber nach, wie es wohl wäre tot zu sein. Ich damals als Jugendlicher auch. Es war eine angenehme Vorstellung, weil es sich so leicht anfühlte. Alle Last war weg: Keine Angst mehr zu versagen, in der Schule oder in der Clique. Kein Gefühl mehr, alleine und ungeliebt zu sein. Kein Schmerz mehr über die Kälte und die Ungerechtigkeit dieser Welt.

 

Meine damalige Todessehnsucht mündete immer in ein bestimmtes Bild: Ich sitze auf der Friedhofsmauer und schaue aus der Ferne vergnügt zu, wie ich beerdigt werde. An diesem Punkt endete der Tagtraum allerdings stets mit zwei Erkenntnissen. Erstens: Diese Situation könnte ich gar nicht mehr erleben, wenn ich mich wirklich umbringen würde. Oder es gibt doch ein Leben nach dem Tod. Dann wäre mein Leben zwar weg, aber die Probleme wären womöglich alle noch da. Wer weiß schon, ob man sich dem Leben wirklich entziehen kann. Zweitens entdeckte ich: Es gibt Menschen, die um mich trauern, denen ich etwas bedeute, die mich lieben. Es lohnt sich also doch zu leben – jedenfalls diesen Tag noch.

 

Inzwischen weiß ich: Viele Jugendlichen haben solche Phantasien. Sie erschrecken, wenn sie tiefer in die Hintergründe und Abgründe des Lebens blicken. Dann flüchten sie in die Phantasie vom Tod, der ihnen diese Mühen scheinbar erspart. Psychologen nennen das „Verweigerung der Lebensreife“.

 

Mein Glaube hat mir geholfen, da herauszufinden. Denn im Vertrauen auf Gott konnte ich die Ansprüche, die mich quälten, von ihrem allzu hohen Sockel herunterholen. Das ist auch heute noch so: Gottes Barmherzigkeit nimmt Druck raus, denn sie sagt: „Du musst nicht perfekt sein. Mühe geben reicht. Das ganze Leben ist nicht perfekt, aber es steckt voller Chancen. Trage deinen Teil bei für eine gute Welt. Den Rest überlässt du Gott.“ Diese Ansage hilft mir, das Leben anders zu sehen, nämlich so: Gott hält für mich noch einiges bereit. Und das will ich nicht verpassen. Aufmerksam sein will ich für das Schöne und Hoffnung haben für die Zukunft – das sind starke Argumente gegen den Tod und für das Leben.

 

Leider tragen diese Argumente nicht immer. Davon singt die Popsängerin Marianne Faithful in einem ihrer größten Hits: „The Ballad of Lucy Jordan“, also die Ballade der Lucy Jordan.

 

 

Die Morgensonne berührte leicht die Augen von Lucy Jordan in einem weißen Vorstadtschlafzimmer in einem weißen Randbezirk. Und sie lag da, unter ihren Decken, träumte von tausend Liebhabern, bis sich die Welt orange verfärbte und das Zimmer sich zu drehen begann.

Im Alter von siebenunddreißig wurde ihr klar, dass sie niemals in einem Sportcoupé durch Paris fahren und den warmen Wind in ihren Haaren spüren würde. Deshalb ließ sie das Telefon klingeln, als sie da saß, sanft sang sie die süßen Kinderlieder, an die sie sich erinnerte, im Polstersessel ihres Vaters.

 

Äußerlich geht es Lucy Jordan gut. Sie lebt in einem schönen Haus. Sie hat einen Mann, der Arbeit hat. Sie hat Kinder, die zur Schule gehen. Sie kann zu Hause bleiben und alles hübsch machen. Die klassische bürgerliche Idylle wird hier aufgeblättert und zugleich als Klischee zertrümmert. Denn der Song erzählt, dass das nicht unbedingt reicht, um den Sinn des Lebens zu garantieren. Wie wird das bei Lucy Jordan ausgehen?

 

Ihr Name steht für die ungezählten Menschen, denen mitten im Alltag der Sinn des Lebens abhandenkommt. Eine gefährliche Situation, denn nicht wenige werfen dann ihr ganzes Leben weg. Ihnen, aber vor allem denen, die es noch nicht getan haben, ist ein eigener Tag gewidmet: der Welttag für Suizidprävention. Den hat die WHO, die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen, auf den 10. September gelegt.

 

Über das Thema Suizid wird nicht gerne gesprochen. Auch aktuelle Zahlen sind nicht leicht zu finden. Dabei geschieht es auf der ganzen Welt, in allen Kulturkreisen und in allen sozialen Schichten. Weltweit etwa 800.000-mal pro Jahr. Noch etwa zehnmal häufiger versuchen Menschen, sich das Leben zu nehmen. Regional gibt es dabei große Unterschiede, aber ein plausibler Grund dafür ist nicht zu erkennen. An der traurigen Weltspitze stehen so unterschiedliche Länder wie Südkorea, Guayana und Litauen. Deutschland liegt im Mittelfeld. Hier töten sich jährlich etwa 10.000 Menschen selbst, also: eine Person pro Stunde. Übrigens: Der Suizid ist männlich. Mehr als zwei Drittel der Opfer sind Männer.

 

Warum nehmen sich Menschen das Leben? Wer danach fragt, stößt gleichzeitig auch auf die Gründe, die Menschen am Leben erhalten.

Am Leben erhalten zuallererst die Familie und der Freundeskreis. Sie geben Geborgenheit und Sinn.

Dann die Gesundheit. Wer krank ist, wird anfälliger für Suizidgedanken. Insbesondere wenn die Seele krank ist, etwa durch schwere Depressionen. Oder wenn Menschen Gewalt erlitten haben. Die Hälfte der Suizid-Opfer ist abhängig von Drogen oder Alkohol.

Auch das Einkommen spielt eine Rolle. Armut kann einem die Lust am Leben nehmen. Wohlgemerkt: Kann, denn so einfach ist das alles nicht. Das zeigen die vielen Menschen, die trotz Elend, Not und Krankheit an ihrem Leben hängen, die bewundernswert stark darum kämpfen und, trotz allem, gut leben können. Umgekehrt gilt: Wohlstand garantiert noch kein erfülltes Leben. Darauf macht Marianne Faithful in ihrem Song über Lucy Jordan aufmerksam.

 

 

Ihr Ehemann ist auf der Arbeit und die Kinder sind in der Schule. Und es gibt für sie ach so viele Möglichkeiten, den Tag zu verbringen. Sie könnte stundenlang das Haus sauber machen, oder die Blumen neu arrangieren. Oder nackt die schattige Straße entlang rennen und den ganzen Weg lang schreien.

 

Lucy könnte alles Mögliche machen, etwas Braves oder Verrücktes. Doch nichts davon spricht sie an. Alles ist weit weg, alles egal. Ein gefährliches Gefühl, denn der Weg in den Tod beginnt meist mit einer Sinnkrise. Betroffene kapseln sich von ihrer Umgebung immer mehr ab. Sie sehnen sich in eine ideale Welt ohne Verzweiflung hinein. So entsteht allmählich ein inneres Gefängnis. Darin spüren die Insassen gar nicht mehr: „Ich bin gar nicht allein. Ich kann etwas verändern. Ich habe noch Lebenschancen.“

 

Genau das kann aber ihre Rettung sein. Betroffene müssen aus ihrem inneren Gefängnis heraus wollen und wieder Interesse entwickeln für etwas, das außerhalb ihrer selbst ist: Kinder, Enkel, der Fußballverein oder anderes. Das hält sie am Leben. Für dieses Mal. Oder für immer.

 

Welchen Weg Lucy Jordan geht, ist nicht klar: Der Song von Marianne Faithful endet geheimnisvoll: Da steht Lucy auf dem Dach eines Hauses. Springt sie von dort in den Tod, vermeintlich in die Arme ihres Märchenprinzen, der ihre Träume dann erfüllt? Oder reicht sie einem Arzt die Hand, dessen Krankenwagen sie im Wahn für das erträumte Cabriolet hält? Das bleibt offen.

 

Die Abendsonne berührte leicht die Augen von Lucy Jordan. Auf dem Dach, auf das sie geklettert war, als das Gelächter allzu laut wurde: Und sie verbeugte sich und machte einen Knicks vor dem Mann, der zu ihr kam und ihr seine Hand anbot. Und er führte sie hinunter zu dem langen, weißen Wagen, der hinter der Menge wartete.

 

Für Lucys Familie ist der Vorfall in jedem Fall ein Schock. Jeder Suizidversuch bezieht andere mit ein: Oft Passanten oder Lokführer, jedenfalls aber Polizisten, Ärztinnen und Hilfskräfte. Alle, die sich um die Verletzten und Toten kümmern müssen. Meist auch Familienangehörige. Sie ringen dann mit der Frage: Hätte ich vorher etwas merken müssen? Habe ich etwas versäumt? Bin ich etwas schuldig geblieben? Damit haben viele ein Leben lang zu kämpfen. Manche finden Hilfe bei einem Seelsorger oder einer Seelsorgerin. Können zusammen mit anderen mühsam einen Weg durch die Trauer finden.

 

Dazu gehört auch, seine eigenen Grenzen zu erkennen. Denn nicht immer kann man etwas tun. Oft verbergen die Betroffenen ihre innere Isolation. Dann bleibt den Angehörigen am Ende eben nur, ihre Grenzen anzuerkennen. Wer kann, legt im Glauben das Leben in Gottes Hand.

 

Wenn man allerdings von der Krise etwas bemerkt, kann man etwas tun. Man kann offen und einfühlsam ansprechen, was man wahrnimmt. Man kann auf professionelle Hilfe bei Ärzten und Psychologen aufmerksam machen und helfen, diese zu finden.

 

Gerettet werden können allerdings nur diejenigen, die das von sich aus wollen. Aus der behandelten Person muss eine handelnde Person werden, die noch etwas vorhat.

 

Viele, deren Suizid misslingt, versuchen es kein zweites Mal. Sie finden ins Leben zurück. Oft wundern sie sich dann über sich selbst. Sie beschreiben ihren dunklen Moment als Affekt oder als Krise, als Wolke, die sie überschattet hat. Und sie sind dankbar für ihr zweites Leben. Deshalb sind Polizisten und Ärzte verpflichtet, suizidgefährdete Menschen vor sich selbst zu schützen. Sie werden in Obhut genommen, bis sie sich wieder stabilisiert haben.

 

Heute sagen viele: „Mein Leben gehört mir. Damit kann ich machen, was ich will.“ Nach dieser Logik müsste man Menschen einfach sterben lassen, wenn sie das wollen. Das aber geschieht nicht, Gott sei Dank. Weil unserer Gesellschaft ein anderes Bild vom Menschen zugrunde liegt. Es ist christlich geprägt und sagt: „Du hast dein Leben nicht selbst geschaffen, deshalb sollst du es auch nicht selbst beenden.“ Das Leben wird als Geschenk Gottes verstanden. Und das ist es auch, was jedem Leben seine Würde verleiht.

 

Der Apostel Paulus geht noch einen Schritt weiter, er sagt: „Wer an Gott glaubt, lebt sein Leben für Christus und Christus in ihm.“ (2. Korinther 5,16ff)

So gesehen ist jeder Suizid ein Versagen nicht nur der eigenen, ganz persönlichen Hoffnung, sondern auch ein unersetzlicher und trauriger Verlust an Leben überhaupt. Deshalb ist jeder Mensch wert, um ihn zu kämpfen. Sein Leben zu erhalten, es annehmbar, wenigstens doch erträglich zu machen.

Darum geht es auch der Sängerin Marianne Faithful. Sie erhebt ihre zart-traurige Stimme für alle, die nach ihren Träumen suchen. Warum sollte es für Lucy Jordan nur die Wahl zwischen Tod und Wahn geben? Warum sollte es jenseits davon nicht einen dritten Weg geben, in dem sie probiert, ihren Traum zu leben? Und die Menschen lachen sie dafür nicht aus, sondern sie freuen sich, dass sich eine 37-jährige Frau etwas traut.

 

Im Alter von siebenunddreißig wusste sie: Sie hatte etwas für alle Ewigkeit gefunden, während sie durch Paris fuhr mit dem warmen Wind in ihren Haaren.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik dieser Sendung:
The Ballad of Lucy Jordan, Marianne Faithful, Hits of the World

 

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