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Sendung zum Nachlesen
TW Tod/ Trauer
Ich bin immer gerne mitgegangen auf den Friedhof. Zum Grab des Großvaters. An den Samstagen Ende Januar hat mein Vater verblühte Gestecke und trockene Tannenzweige abgeräumt. Sobald es Richtung Frühling ging, hat er neu gepflanzt und dann und wann den Grabstein geschrubbt. Ich hab dann dort gespielt. Vielleicht auch ein bisschen geholfen. Mein Vater hat schweigend vor sich hingearbeitet. Heute weiß ich, er hat getrauert. Still für sich. Und ich habe nicht nachgefragt, nicht gestört. Es war trotzdem gut, zu zweit zu sein.
Ich sehe mich noch zwischen den Gräbern herumlaufen. Stolz, endlich lesen zu können, entziffere ich die Namen. Sie klingen altmodisch. Wie der meines Großvaters: Heinrich.
Seit vielen Jahren steht der Name meines Vaters, auch der meiner Mutter und anderer Menschen meines Lebens auf Grabsteinen. Es werden immer mehr.
Ich stehe an ihren Gräbern und lese ihre Namen.
Ich mag das alte biblische Bild vom Buch des Lebens und auch das, was Jesus gesagt hat: „Freut euch, dass eure Namen in den Himmel geschrieben sind.“ (Lukas 10,20) Beide zeigen: Du bleibst. Für Gott bist du immer der, der du bist, die, die du bist. Mit allem, was du getan und nicht getan hast. Nicht vergessen. Nicht übersehen.
Die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar erinnert sich an eine eigene Art des Totengedenkens. Sie erzählt, wie sie als Kind mit ihrer Großmutter immer auf Friedhöfen spazieren gegangen ist. Die Großmutter bleibt vor jedem Grabstein stehen und betet für die Toten, auch für Tote, die sie gar nicht kennt. Weil sie selber nicht lesen und schreiben kann, liest die Enkeltochter ihr die Namen vor. Man darf die Toten nicht vergessen, erklärt ihr die Großmutter, sonst bekommen ihre Seelen Schmerzen.
Emine Özdamar erinnert sich:
In der Nacht betete ich und zählte die Namen der Toten auf und schenkte ihren Seelen die Gebete. Ich schaute jeden Tag in die Zeitung und sammelte die Namen der Toten (…). Meine Totenliste wurde länger und länger. Erst hatte ich nur türkische Tote, dann kamen andere dazu. Mein Bruder und ich lasen der Großmutter und ihren Freundinnen Romane vor, z. B. Madame Bovary, um die die alten Frauen weinten, so kam Madame Bovary auf meine Liste der Toten, wenig später auch Robinson Crusoe.“ (1)
Den Toten Gebete schenken. Ihre Lebensgeschichten würdigen, warum nicht - auch die aus Büchern.
Dieses Gespür für die Erinnerung an die Toten übersteigt die Grenzen der Religionen, verbindet uns. Es hat mit Würde zu tun und mit Trauerkultur. Und mit Liebe. Stärker als der Tod.
Es gilt das gesprochene Wort.
Literatur zur Sendung:
- Emine Sevgi Oezdamar in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner Preises 2022, nachzulesen unter: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/emine-sevgi-oezdamar/dankrede - aufgerufen am 08.01.2024.