Auferstehung

Gartengrab Jerusalem

Gemeinfrei via unsplash/ Jonny Gios

Auferstehung
Wie wertvoll Leben ist
04.04.2021 - 08:35
31.03.2021
Christina-Maria Bammel
Über die Sendung:

"Am Sonntagmorgen" im Deutschlandfunk zum Nachhören und Nachlesen

 
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Heute wacht es sich anders auf. Heute ist der Tisch liebevoller geschmückt. Festlich einfach! Frische Blumen. Ein strahlend sauberes Tischtuch. Und die Brötchen duften verlockender als sonst. Heute schmeckt das Leben anders; zum Verlieben lecker. Kostbar dieser Augenblick. Fast könnte ich jubeln. All die Knoten und alles, was der Alltag sonst noch festgezurrt hatte, löst sich langsam auf in lachhafte Leichtigkeit.

 

Wir wollen alle fröhlich sein
in dieser österlichen Zeit,
denn unser Heil hat Gott bereit'.
Halleluja.
Gelobt sei Christus, Marien Sohn.

(EG 100, 1)

 

Jesus lebt! Das ist die Nachricht des Tages, heute, am Ostersonntag.

Stellt sich die besungene Lebensfreude ein? Was ist mit allen anderen, denen das Jubeln und die Fröhlichkeit vergangen scheinen?

Denen die Herzensfreude festklemmt in den zähen Monaten hinter geschlossenen Türen.

„Geschlossen“ – Das war und ist für die meisten DAS Pandemiewort. Seit jenen Frühlingstagen im letzten Jahr. Ist der Termin zum Fröhlichsein für alle nicht doch ein bisschen zu zeitig?

 

Wir wollen ALLE fröhlich sein…

So besingt es der alte Choral aus dem Evangelischen Gesangbuch - mit seinem Text aus dem
14. Jahrhundert. Mit regelrecht fröhlichem Tanzschritt, weil Türen aufgegangen sind.

Die Türen in die Kirchen, zu den Gottesdiensten, die sind heute noch nicht überall offen. Aber Höllentüren springen auf, singt der Choral. Nimmt mein Herz und meine Hand und verbindet sie mit dem, der herausführt aus Angst und Enge. Und verspricht mir:

Etwas Besseres als den Tod, den ewigen Angstmacher, gibt`s auf jeden Fall für alle Fälle.

 

Halleluja!

 

Er hat zerstört der Höllen Pfort,
die Seinen all herausgeführt
und uns erlöst vom ewgen Tod.
Halleluja, Gelobt sei Christus, Marien Sohn.

(EG 100, 3)

Tür auf für das Leben. Wie gut das tut! Nach Monaten, in denen so oft vom Tod geredet wurde. In denen so viele mit dem Tod und im Tod allein waren. Tod ist vielfach und nicht nur virusbedingt geschehen. Ich kann das nicht vergessen. Auch Gott vergisst das nicht.

Tür auf für das Leben. Singt der Choral. Halleluja! Komponiert wurde er wenige Jahrzehnte nach der ersten große Pandemiewelle des „Schwarzen Todes“, der Pest, die durch Europa gebrandet war.

Manche Länder waren noch lange darauf in der Schockstarre gefangen, andere bauten mit unglaublicher Energie neue Systeme von Kultur und Wirtschaft auf.

Nicht nacheinander und wohl geordnet, all das geschah gleichzeitig: Die einen wie vom Lebensfaden abgeschnitten. Die anderen im Jubel über die Lebensfülle, wenn sich die Tore der Städte wieder öffnen, wieder Geschäftigkeit auf die Handelsstraßen kommt.

Gleichzeitig waren Leben und Tod. Gleichzeitig die Klage da und die Freude hier. Gleichzeitig Erleichterung und Erschöpfung. Gleichzeitig Jauchzen und Schmerz. Auch heute: gleichzeitig der Jubel bei den einen neben den Tränen der anderen. Der Tod macht seine eigenen Termine. Und? Das Leben erst recht.

Dieser andere Termin ist heute. Er ist in vielen Kirchengemeinden Tradition und bedeutet mir viel: Der Morgenmoment auf dem Friedhof.

Dorthin gehe ich zur frühen, noch fast nachtschlafenden Zeit des Ostermorgens. Stehe im aufgehenden Sonnenlicht, draußen, aber zusammen mit Menschen aus der Gemeinde. Die Bläser versuchen vorsichtig mit dem angestimmten Choral ihre Töne ins Zwitschern der frühen Vögel hinein zu finden. Die ersten grünen Halme gucken neugierig aus dem Boden – als würden sie sich wundern über die kleine Menschengruppe, der die Nachtkälte noch in den Knochen zu stecken scheint. Die einen in der Gruppe fragen sich: Könnte es sich tatsächlich so anfühlen, wenn der Todesengel kapituliert? Und die anderen scheinen sich nicht ganz sicher zu sein: Ist das alles vielleicht nur eine Atempause im Weitergang der ständig gleichen Geschichte vom Vergehen? So stehe ich zwischen Leid und Leichtigkeit. Mit der Osterfreude auf dem Friedhof. Mit und zwischen den anderen, die hier stehen. Hier und jetzt ein Termin mit einem Anfang, dem neuen Leben!

Für mich ist das keine Fröhlichkeit auf Knopfdruck. Aber Zeit und Raum zum Fröhlichsein. Morgenzeit! Zum Aufstehen, Türen aufschließen, Tische decken, Menschen in die Arme nehmen: „Da bist du ja endlich! Wir haben so auf dich gewartet!“ –

 

Es singt der ganze Erdenkreis
dem Gottessohne Lob und Preis,
der uns erkauft das Paradeis.
Halleluja,
Gelobt sei Christus, Marien Sohn.

(EG 100, 4)

 

Nehme ich da auf dem Friedhof nicht den Mund zu voll, wenn ich meine, jetzt könnte der ganze Erdenkreis singen? Denn schon jenseits der Friedhofsmauern wird man die vorsichtigen Töne gar nicht mehr gehört haben. Nur das zaghafte Summen und Rauschen der erwachenden Stadt.

Beim Singen kann ich hinter der Mund-Nase-Bedeckung nur die Augen der anderen sehen. Doch hinter diesem Stück Stoff erzählen für Augenblicke alle, die da stehen und Töne versuchen, ihre eigene Geschichte.

Geschichten vom Gehenlassen. Vom Gehenlassen eigener Pläne und Vorhaben.

Geschichten vom Gehenlassen lieb gewonnener Menschen. Wie weitergehen ohne sie? Geschichten vom Lebenneulernen nach dem Weinen.

Wie soll das gehen?

Von manchem Augenpaar bilde ich mir ein, die Geschichte ganz gut zu kennen: Was sich da so machtvoll hineingeschoben hatte in die Köpfe und Kalender in den Pandemiemonaten, das wird nicht einfach in der Wärme der Osterfeuer aufgehen.

„Wir haben neu gelernt, über das Sterben zu sprechen, über die Angst davor. Und wir haben gelernt, wie wertvoll das Leben ist.“ So hat mir das eine junge Frau gesagt, vor ein paar Tagen. Sie wollte heute früh unbedingt das erste Mal mitgehen und hier mit uns anderen zwischen den Gräbern stehen. Noch hat sie hier niemanden zu betrauern, wusste ich.

Aber ich kann gut sehen, wie sie damit ringt, dass der Tod zudringlich geworden war. Nicht nur in den allgegenwärtigen Statistiken, sondern bei Kolleginnen, Freunden, Verwandten. Und was sie meinen könnte, wenn sie vom „wertvollen Leben“ spricht.

Kostbar bis zum Ende. Sie hat Recht: Wir haben gelebt mit der Angst vor dem Sterben. Wir werden damit weiterleben. Hinter Masken, mit Inzidenzzahlen, Schnell-Test-Erwartungen und Impfterminberechnungen.

Aber hier, auf dem Friedhof, am Ostermorgen, bin ich mir sicher: wir werden nicht einfach damit leben und schon gar nicht akzeptieren, dass Menschen gegen ihren Willen allein starben und sterben. Wir werden nicht einfach damit leben und akzeptieren, dass unsere Kinder Angst haben vor dem Absterben einer Zukunft, bevor diese überhaupt erst begonnen hat.

 

Es macht einen Unterschied, einen unendlichen Unterschied, ob ich angst-starr wie tot bin oder beweglich und lebendig. Ob ich mich abfinde und aufgebe oder mich auf einen Anfang einlasse. Es gibt diesen unendlichen Unterschied zwischen Leben und Tod. So, dass er sich nicht in mein Denken hineinpressen lässt, schon gar nicht in den Kalender. Ostern und das Geheimnis darin machen diesen unendlichen Unterschied.

 

Es ist erstanden Jesus Christ,
der an dem Kreuz gestorben ist;
ihm sei Lob, Ehr zu aller Frist
Halleluja,
Gelobt sei Christus, Marien Sohn.

(EG 100, 2)

 

Es ist erstanden Jesus Christ. Das ganze Ostergeheimnis in einer Liedzeile. Das ganze Ostergeheimnis? Nicht ganz! Das reicht tiefer. Spannt einen Bogen weit in die Geschichte des Volkes Israels hinein.

Die wird bei Tisch erzählt. Und der ist immer gedeckt mit Geschmack und Geschichten. Wisst ihr noch, unser Weg aus dem Todesschattenland? Aus dem Land, das sich wie ein Grab über uns schließen wollte? So erzählt man sich. Wie sich Tore der Hölle öffneten und Menschen zurück in die Freiheit gaben? Wie sich sogar das Meer auftat, um Wege freizugeben? Wie Menschen zu Herausgeführten wurden? Herausgeführt ins Leben? Und wie ein Volk im richtigen Moment einen Termin mit der Freiheit machte? Und dabei war sich niemand dieser Sache sicher. Außer vielleicht Gott selbst.

Diese jüdische Tischgeschichte ist eine der besten Trostgeschichten, nicht obwohl, sondern weil sie eine „Trotzdemgeschichte“ ist. Trotz und Trost liegen hier dicht beieinander. Trotz aller Angst bleibt diese Geschichte vom Auszug aus der Sklaverei die Freiheitsgeschichte Gottes. Dessen schwächste Seiten sind dabei immer noch stärker als alle menschliche Kraft zusammen. Das ist der weite Bogen des Ostergeheimnisses. Davon ist aus dem zweiten Buch Mose zu hören:

 

Gemeldet wurde dem König von Ägypten, dass das Volk Israel entlaufen wolle, und das Herz des Pharaos und seiner Diener wandelte sich gegen das Volk. […] Er ließ seine Fahrzeuge bespannen und nahm sein Kriegsvolk mit sich. Und setzte den Kindern Israels nach.

(Bibel, Exodus 14, 5ff, nach der Übersetzung von Martin Buber)

 

Und die Kinder der Kinder der Kinder fragen jedes Jahr zum Pessachfest, wie die Geschichte zwischen dem Pharao und dem Volk Israel weiterging, und sie hören die Rettungs- und Befreiungsgeschichte Gottes, der sein Volk durch eine Todesfurcht-Nacht ins Licht führte. Eine Geschichte, die der Jude Jesus selbst bei Tisch hörte, weiter erzählte und als dessen Teil er sich aus tiefstem Herzen verstand. Eine Geschichte, in vielen Sprachen und Varianten übersetzt. Eine dieser Varianten klingt so:

 

Über uns kam sein Wort und trieb uns auf Wege zu Stätten voller Lieblichkeit – schmerzend und dunkel der Weg der Errettung, dunkel die Flucht in die Zukunft./ Hell stand das Schilf am Ufer und wehte leicht, hell glitzerte Wasser in Lachen und Gräben, leicht war der tastende Gang der Füße dazwischen – schwarz türmt´s  sich vorne und schwarz war es hinten, schwarz war der Berg in der Ferne./ Hinter uns dumpfe Geräusche. Wir schauten nicht hin./ Unsre Kinder hörten zuerst die trommelnden Hufe. Jemand schreit: Waren im Angstland nicht Gräber genug?/ Auf zog der Wind von dem Berg in der Ferne und wehte die Wellen zurück in ihr Flussbett. Hoch stieg der letzte der Sklaven ans andere Ufer – tief war das Meer nun, schwarz schlug das Waser hin über Pferde und Reiter./ Über uns kam der Tag, und es war als wären wir selbst die Ertrunkenen -  hart wie die Hand, die entbindet, klärend der Schmerz unserer Rettung. Klar liegt der Weg uns vor Augen.

(n. H. Oosterhuis, Lesebuch, Herder, S. 56, Zeile 5.6.8 und Zeilen 10-31)

 

Der Geschmack von Furcht in der Nacht der Flucht. Der Geschmack von Freiheit nach der Flucht

Beides, Furcht und Freiheit, wird bei Tisch geschmeckt. Wenn alle feiern, ist er zu spüren: Der Geschmack von Tränen salzig wie das Meer, das Leben verschlingt und Leben gibt!

Und siehe – Israel begann zu leben auf der anderen Seite des Ufers. Auch wenn dort erst einmal alles andere als das geöffnete Paradies wartete: Sklavenland war nicht mehr. Der Höllenritt zu Ende. In Ägypten würden die Gräber vergeblich auf sie warten!

Sich herausführen zu lassen… Anfangen, auf eigenen Füßen zu leben... Wie kann das gehen? Was kommt nach den Todesschatten?

Es ist wie ein Geheimnis, das die Menschen auf ihrem Weg miteinander teilen. Sie teilten ja nahezu alles auf ihrem Weg durchs öde Land - ihre Angst, ihre Mut- und ihre Wutanfälle, ihre Träume und ihre Lebenssehnsucht. Nacht und Tag. So standen sie mit jedem Schritt mehr auf – in ein Leben hinein, das Gott bereithielt. Hielten kaum für möglich, was immer wieder geschah, dass Gott sie mehr als einmal aus allen möglichen Bedrückungen zog.

Aufstehen und Weitergehen. Dabei bleibt die Frage nicht aus: ob das alles lohnt? Wofür eigentlich? Gehen wir nicht im Kreis? Hat das Ganze einen Wert?

Nach und nach, Generation für Generation, ist es neu zu begreifen: Es geht nicht darum, ob es lohnt und was das alles für einen Wert hat. Wertvoll ist das Leben, weil es randvoll gefüllt ist mit Aussichten, Möglichkeiten und einem Versprechen. Kurzum: voller Hoffnung! Jeder einzelne Tag, an dem Menschen die Türen in die Freiheit aufgestoßen bekommen. Hoffnungsvoll jeder einzelne Tag in Freiheit, und sei es in der Wüste. Schwer, durstig oder schmerzhaft? Nicht daran bemisst sich der Wert, sondern an der Hoffnung, die in ihnen ist.

 

Am Ostermorgen auf dem Friedhof stehen. Vielleicht zaghaft singen, wenigstens summen. Die Geschichten hinter den Masken, den Kreuzen und Grabsteinen ahnen. Durch die Furcht hindurch doch die Freude schmecken: Was jetzt alles noch beginnen kann. Was jetzt möglich wird… Danach zu suchen, das trotzt dem Tod. Und findet Trost.

So stelle ich es mir bei den Frauen, Maria und die andere Maria und Salome vor. Denen war es so, als sei ihnen mit Jesus das Leben selbst gestorben. Nur die Beine taten mechanisch ihren Dienst, als sie im Morgengrauen zu seinem Grab gingen. Mit Öl in der Hand und mit leeren, ausgeweinten Herzen. Aber auf die Frauen warteten eine geöffnete Grabtür und: ein Bote. Dessen Botschaft musste den jüdischen Frauen mehr als bekannt vorkommen, denn sie waren tief verbunden mit ihrer eigenen Geschichte.

Bloß keine Furcht! Sagt der Bote. Denn Jesus hat an sich wahrmachen lassen, was Israel schon einmal erfahren durfte: Dass es einen Aufstand gegen die Herrschaft des Todes gibt.

Bloß keine Furcht! Und siehe! Das heißt doch: wir leben ein wertvolles, weil so sehr hoffnungsvolles Leben. In diesem Moment.

War das schon der ganze Ostermoment? Da bleibt vielleicht etwas offen. Vielleicht ist es genau das, was passiert, wenn Höllentüren zerstört sind. Dann wird etwas offen. Und dann bleibt etwas offen, dann bleibt der Ostermoment selbst Geheimnis...

Das halte ich nicht einfach für religiöse Selbstberuhigung. Die Frauen am Grab waren ja auch alles andere als beruhigt. Im Gegenteil: Aus der Grabesruhe wird Bewegung. Was für eine! Raus aus dem tödlichem shutdown von Herz und Seele. Tür auf für den Neubeginn. Ein Aufbruch, der sich nicht erschöpft in Erklärungen.

Das muss den Frauen sofort klar gewesen sein. Noch klarer war ihnen: ab jetzt können sie über den Tod, über die eigene Furcht hinausdenken. Und dabei nicht ausschließen, dass sie IHN treffen könnten, lebendig, herzlich, zugewandt…

Jetzt haben es die Frauen eilig und nehmen sich gegenseitig an die Hand. Sie haben den Anderen, zurückgeblieben in ihren Trauerhäusern, etwas Entscheidendes zu sagen. Und sie wollen es allen auf den Tisch legen wie ein gutes Stück Brot, das nährt und heilt: Jesus lebt!

Mit dieser Botschaft kann ich aufstehen und leben. Sie gilt allen Menschen. Sie leugnet die alte Traurigkeit nicht. Aber sie lässt mich den Tisch decken. Mit Sehnsucht und mit Träumen. Sie lässt mich die Liebe im Brot und das Leben im Wein entdecken.

Wer es noch nicht glauben mag, könnte es schmecken… in dieser österlichen Hoffnungszeit.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
 

Pfarrer Holger Bentele, Improvisationen zu EG 99 und EG 100, Eigenaufnahme, Rechte liegen vor

 

31.03.2021
Christina-Maria Bammel