Licht, Leben, Liebe

Am Sonntagmorgen

Foto: epd-Bild/ Rolf Zoellner

Licht, Leben, Liebe
Die Stalingrad-Madonna
11.12.2022 - 08:35
01.08.2022
Barbara Manterfeld-Wormit
Über die Sendung:

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Es liegt Asche auf dieser Adventszeit. Kein Puderzucker, kein Glitter, kein Goldstaub. Es ist gefühlt kälter – trotz Kerzenlicht und Glühwein. Es ist dunkel - daran ändern auch die Lichterketten nichts.

Es ist Krieg in Europa. Die Folgen legen sich wie ein Schatten über den Alltag. Unbeschwert die Vorweihnachtszeit genießen – das will nicht recht gelingen, wenn anderswo gelitten und gefroren wird. Es liegt Asche auf diesen Tagen und auf dieser Zeit. Das Gefühl der Endzeitstimmung lässt sich nicht vertreiben. Auch das ist Advent. So haben Christinnen und Christen diese Zeit auf Weihnachten hin früher erlebt und gestaltet: mit Fasten und Beten. Als Bußzeit. So klingt es auch durch die biblischen Texte:

Es spricht eine Stimme: Predige! - und ich sprach: Was soll ich predigen?

Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde.

Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; denn des HERRN Odem bläst darein.

Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt,

aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.

Jesaja 40, 6 ff.

Licht und Leben mitten im Winter, wo die Natur schläft unter Schnee und Eis: die Sehnsucht nach beidem steckt in diesem alten Lied, dessen Text um 1600 entstand. Licht und Leben: ich sehne mich danach auch heute und in diesem Winter erst recht. Ich fühle mit den Menschen in der Ukraine und ahne, wie es ist, wenn die Heizung nicht nur sparsam läuft, sondern ganz und gar kalt bleibt. Wenn es keinen Strom gibt bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. Wenn alles klamm ist und kalt, wenn das Leben gefriert.

Licht, Leben, Liebe – das steht auf einem gefalteten Stück Papier. Die Markierungen sind deutlich sichtbar auf dem Bogen. Es ist eine alte Landkarte Russlands. Auf der Rückseite zeichnet der Arzt und Pfarrer Kurt Reuber im Dezember 1942 mitten im Kessel von Stalingrad ein Bild. Es wird ihn überleben. Kurt Reuber stirbt 1944 in russischer Gefangenschaft im Alter von 38 Jahren. Er hinterlässt eine Frau und drei Kinder.

Stalingrad-Madonna, so wird das Bild von ihm genannt. Mit wenigen anderen seiner Zeichnungen wird es mit einem der letzten Flugzeuge aus dem Kessel von Stalingrad gerettet und später seiner Frau übergeben. Heute – 80 Jahre später – findet man sein Bild in der Kaiser–Wilhelm-Gedächtniskirche mitten im Herzen von Berlin. Es hängt beinahe unauffällig in einer dunklen Nische im Eingangsbereich. Und doch berührt es jeden, der davor stehen bleibt, und zieht in seinen Bann: Licht, Leben, Liebe – diese drei Worte - daneben eine Frau mit einem Baby im Arm, umhüllt von einem Mantel. Ich spüre die Kälte da draußen und werde dabei doch magisch angezogen von der Wärme im Zentrum des Bildes, die von der bergenden Umarmung ausgeht. Das ist die Stalingrad-Madonna - Maria, die Mutter Gottes, mit Kind. Weihnachten 1942. Mitten im Kessel von Stalingrad. Eine Zeichnung mit Kreide auf der Rückseite einer Landkarte, die keiner mehr brauchte. Es gab kein vor- und kein zurück mehr für die deutsche Armee, Weihnachten 1942 in Stalingrad. Rund eine Millionen Soldaten ließen bei der Schlacht ihr Leben. Die Hälfte davon russische Soldaten.

Ich habe lange bedacht, was ich malen sollte – und dabei herausgekommen ist eine „Madonna“ oder Mutter mit Kind… Meine Lehmhöhle verwandelte sich in ein Atelier. Dieser einzige Raum, kein nötiger Abstand vom Bild möglich! … Dauerndes Anstoßen, Hinfallen, Verschwinden der Stifte in den Lehmspalten … mangelhaftes Material, als Papier eine russische Landkarte… Die Zeichnung ist angelegt in großen Flächen, Formen und Linien, alles vereinfachend, in der Fläche bleibend, wie ein Fresko, zugleich aber Entwurf für eine Plastik… Das Bild ist so: Kind und Mutterkopf zueinander geneigt, von einem großen Tuch umschlossen, Geborgenheit und Umschließung von Mutter und Kind. Mir kamen die johanneischen Worte: Licht, Leben, Liebe. Was soll ich dazu noch sagen? Wenn man unsere Lage bedenkt, in der Dunkelheit, Tod und Hass umgehen – und unsere Sehnsucht nach Licht, Leben, Liebe, die so unendlich groß ist in jedem einzelnen von uns!

Kurt Reuber war Pfarrer, Arzt und Künstler. Geboren 1906 in Kassel studierte er Theologie und Medizin. Nebenher besuchte er die Kunstakademie. Seine Begabung als Maler war offensichtlich.  Während dieser Zeit kam es zu einer entscheidenden Begegnung mit jemandem, dessen Biografie ganz ähnlich war: Albert Schweitzer. In einem Brief schreibt er dem jungen Studenten Kurt Reuber:

Die große Frage ist für Sie: im Predigtamt bleiben oder Medizin. Wäre es vor dem ersten Weltkrieg, würde ich sagen Medizin; jetzt, wo es auch nötig ist, daß Menschen mit feurigem Wollen und weitem Horizont in der Kirche wirken, würde ich eher sagen: in der Kirche bleiben.“

                       Zit. nach: Martin Kruse (Hrsg., Die Stalingrad-Madonna. 2012, S.8)  

1930 legte der damals 24jährige Kurt Reuber sein 1. Theologisches Examen an der Evangelischen Fakultät in Marburg ab. Er wurde Vikar im hessischen Loshausen und später an der Universitätskirche in Marburg. Und er begann wieder zu malen: Er portraitierte Menschen aus seiner Gemeinde. Viele Ölbilder entstanden in dieser Zeit: Frauen in Tracht, Alte Männer – Portraits aus der Heimat. Ganz nah kommen einem die Abgebildeten, viel näher als auf einer Fotografie. So kurz das Leben Reubers war – so viel hat sich darin ereignet: Reuber bestand das zweite theologische Examen und promovierte innerhalb desselben Jahres. In Wichmanshausen, Kreis Eschwege, trat er seine erste Pfarrstelle an – und machte bedrängende Erfahrungen mit dem erstarkenden Nationalsozialismus. Seine Predigten wurden durch Spitzel abgehört, er selbst mehreren Verhören unterzogen.

Was hält Leib und Seele zusammen? Die Frage trieb ihn um. Seine Frau Martha übernahm Teile der Gemeindearbeit und so gelang es ihm, sein Medizinstudium fortzuführen. 1938 legte er in Göttingen sein Staatsexamen ab, bereits ein Jahr später – im Oktober 1939 – berief man ihn als Truppenarzt zum Heeresdienst. Er wurde in Kriegslazaretten eingesetzt in Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Serbien. Nebenbei malte er: Aquarelle von fremden Landschaften und Menschen. Dann geht es an die Front nach Russland. Ihm begegnen viele Flüchtlinge. Er sieht in ihnen Mitmenschen – nicht Feinde:

Schwangere Frauen mit Säuglingen auf dem Arm, mit Bettelsack und Lumpen und am Rock die etwas größeren Kinder, die auch schon ihr Päckchen tragen. Sechzig Kilometer im Schlamm zu Fuß, heimatlos auf der Suche nach Brot, das sie am Tage des Bettelns bereits verzehren – ziellos; die Männer im Krieg untergegangen! Aber der schöne, liebe Säugling lacht mich an in allem Elend, und die Mutter freut sich darüber, als ich sagte, dass das Kind schön sei…

                                                                                (A.a.O. S.15 f.)  

Heute, am 3. Advent, ist das Weihnachtsfest schon nah. 80 Jahre sind vergangen, seit Kurt Reuber die Stalingrad-Madonna zeichnete. Ein Weihnachtsbild mitten aus dem Schützengraben von Stalingrad. Die Stalingrad-Madonna ist ein Weihnachtsbild, Kurt Reuber hat es damals im Schützenbunker gezeichnet. Man will nicht glauben, dass das überhaupt geht - beides zusammen: Weihnachten im Kessel. Die Geburt Christi feiern mitten im Krieg. Licht, Leben, Liebe feiern und verkünden angesichts von Hass, Aussichtslosigkeit und Sterben.

Als ich nach altem Brauch die Weihnachtstür, die Lattentür unseres Bunkers, öffnete und die Kameraden eintraten, standen sie wie gebannt, andächtig und ergriffen schweigend, vor dem Bild an der Lehmwand, unter dem auf einem in die Lehmwand eingerammten Holzscheit ein Licht brannte. Die ganze Feier stand unter der Wirkung des Bildes, und gedankenvoll lasen sie die Worte: Licht, Leben, Liebe. Heute Morgen kam der Regimentsarzt zu mir und dankte mir für diese Weihnachtsfreude. Noch spät in der Nacht, als die andern schliefen, hätte er mit einigen Kameraden immer wieder von seinem Lager aus das Bild im Kerzenschein gedankenvoll ansehen müssen. Ob Kommandeur oder Landser, die Madonna war immer Gegenstand äußerer und innerer Betrachtung.

                                                                                          (A.a.O. S.89)

80 Jahre ist dieses Weihnachtsfest her. Lang und schmerzhaft war der Prozess, waren die Schritte der Versöhnung der verfeindeten Völker, aufeinander zu. Ein Ausdruck dieses Prozesses ist das Bild, das heute in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche hängt – und in der Kapelle von Wolgograd, dem früheren Stalingrad. Kurt Reuber zeichnete nicht nur die Madonna mit Kind, sondern viele Portraits im Laufe seines kurzen Lebens. In der Ukraine entstanden Zeichnungen von Greisen, Frauen und Kindern. In seinen Briefen gibt er Einblicke in die Schrecken des Krieges, die heute erneut aufflammen.

Ein Gottesdienst in der Gedächtniskirche erinnerte kürzlich an den Maler Kurt Reuber und seine berühmte Zeichnung. Und gedachte der Opfer der Kriege. Damals und heute:

 

Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken derer, die ums Leben kamen,

weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben,

und derer, die den Tod fanden,

weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.

Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage,

um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung,

um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte,

die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.

Wir gedenken heute auch derer,

die bei uns durch Hass und Gewalt Opfer geworden sind.

Wir gedenken der Opfer von Terrorismus und Extremismus,

Antisemitismus und Rassismus in unserem Land.

Wir trauern mit allen,

die Leid tragen um die Toten und teilen ihren Schmerz.

Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung

unter den Menschen und Völkern,

und unsere Verantwortung gilt

dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.

(Evangelischer Gottesdienst aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche 13.11.2022 rbb-kultur)

 

Die Madonna von Stalingrad ist das Vermächtnis von Kurt Reuber. Seine Botschaft: Leben, Licht und Liebe – daran haltet fest, auch in dunklen und kalten Zeiten! Aus Kurt Reubers Portraits klingt der Appell: Seht im anderen immer und zuallererst den Menschen, nicht den Feind. Einen Menschen, der wie Du am Leben hängt. Der liebt und hofft und sich sehnt nach einer Umarmung. Dies zu erkennen, das zuzulassen bedeutet Weihnachten.

Vor der Weihnachtsmadonna in Stalingrad

Als Gott der Welt in Christ das Heil gesandt:

Hat er ins Elend liebend sich begeben,

dem zu entfliehen wir vergeblich streben:

er, Gott, kam selbst und, wenn auch tief verkannt,

 

er kam zu uns, sucht her und hin im Land,

die da verlassen und verloren leben,

sucht noch die Ärmsten aus dem Staub zu heben

mit eines Heilands milder, starker Hand.

 

Er sucht sie heim, er fand sie bei den Trebern,

an Zäunen bettelnd, arm in engen Stuben –

und fänd euch nicht, ihr Brüder in den Gruben,

 

der fänd euch nicht, dem alles eigen ist,

der nichts vergaß noch jemals je vergißt,

der fänd euch nicht  in Trümmern und in Gräbern?

 

Erst, wenn es dunkelt, wird das Licht entzündet.

Nur in der Nacht sehn wir der Sterne Schein.

Und in die Nacht brach Gott als Licht herein,

als in der Welt die Weihnacht ward verkündet.

 

Und seit das Licht sich dieser Welt verbündet,

mag Herz und Erde noch so dunkel sein,

es bricht sich Bahn, bricht durch und dringt hinein,

bis es im Dunkeln unsre Augen findet.

                                                  (Arno Pötzsch, A.a.O. S.36)

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Dorothee Mields, Sopran, Lautten Compagney: Ach bittrer Winter (Traditional), CD-Titel: Wie schön leuchtet der Morgenstern, Track Nr. 3.
  2. Dorothee Mields, Sopran, Lautten Compagney: Maria durch ein Dornwald ging (Traditional), CD-Titel: Wie schön leuchtet der Morgenstern, Track Nr. 4.
01.08.2022
Barbara Manterfeld-Wormit