Waren wir blind?

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Jeremy Lishner / Unsplash

Waren wir blind?
Missbrauchserfahrungen in der Kirche zur Sprache bringen
26.09.2021 - 08:35
30.09.2021
Cornelia Coenen-Marx
Über die Sendung:

Jahrzehntelang wurde Katrin vom eigenen Vater sexuell missbraucht. Nach jahrelangem Schweigen kann sie heute darüber sprechen und denkt sich oft: "Hätte ich eher was gesagt, wär ich heute nicht so krank." Mit Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx spricht sie über das Unsagbare - und darüber, wie ihr ihr Glaube all die Jahre geholfen hat. 

 
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In diesem Beitrag geht es um sexualisierte Gewalt und Missbrauch. Bitte entscheiden Sie sorgfältig, ob Sie sich mit dem Thema auseinandersetzen wollen und können. Wenn Sie Rat zum Thema sexualisierte Gewalt suchen, erreichen Sie die Telefonseelsorge rund um die Uhr unter 0800/1110111, per E-Mail und im Chat unter online.telefonseelsorge.de

 

Wir kennen uns schon mehr als 40 Jahre – seit dem Konfirmationsunterricht. Nennen wir sie Katrin. 1982 habe ich sie konfirmiert, sie war schon 15 und kam ganz bewusst zu mir. Sie wollte von einer Frau konfirmiert werden.  Später haben wir uns aus den Augen verloren – wir wohnen beide nicht mehr in der alten Gemeinde. Vor acht Jahren dann schickte sie mir eine Nachricht über Facebook. Sie sollte an der Hüfte operiert werden und hatte panische Angst.  Ich wusste noch, dass sie von Geburt an eine Hüftluxation hatte – und erfuhr, dass sie schon zwei OPs hinter sich hatte. Aber diesmal war es anders: Sie hatte Angst vor der Narkose, Angst nicht wieder aufzuwachen, Todesangst.

So kamen Katrin und ich nach Jahren wieder ins Gespräch. Es wurde immer deutlicher: da musste noch etwas anderes sein. Katrin ging zur Pfarrerin in ihrer Gemeinde, übernachtete dort auch mal im Pfarrhaus. Und als die Symptome immer schlimmer wurden, als sie auch nachts um Hilfe bat, war Katrin mit einer Traumatherapeutin einverstanden. Es stellte sich heraus: Sie hatte über lange Zeit sexuelle Gewalt erfahren. Und jede Narkose erinnerte sie an die Ohnmacht, die Hilflosigkeit und die Todesangst, die sie damals erlebt hatte.

Was Katrin erlebt hat, ist hart. Schwer zu ertragen, was sie erzählt.  Aber es tut ihr gut, endlich darüber sprechen zu können - nach den langen Jahren des Schweigens. Und wir müssen darüber sprechen, innerhalb und außerhalb der Kirche. Manchmal ist das eine Zumutung, das gilt auch für diese Sendung. Entscheiden Sie als Hörerin und Hörer bitte, ob Sie zuhören können und wollen. Katrin und ich hoffen darauf.

Wir sind über Social-Media im Kontakt, über die letzten Jahre immer wieder und vor dieser Sendung noch einmal sehr intensiv. Nach einer Kehlkopf-OP braucht Katrin eine Stimmprothese. Das ist auch ein Grund, warum jetzt eine Sprecherin ihre Worte spricht. Manchmal schickt Katrin mir eine Sprachnachricht, manchmal schreibt sie einfach. Wir sind vertraut miteinander. Und deshalb kann ich sie fragen nach ihren Erfahrungen mit Gewalt und Missbrauch.

 

Fällt mir schwer, davon zu erzählen, aber ich versuche es.  Mein Vater war herrschsüchtig. Was er sagte, musste getan werde. Meine Mutter hatte nichts zu sagen, sonst bekam sie Schläge. Er war auch ständig besoffen. Mein Bruder und ich waren lieber friedlich und gehorchten, bevor wir auch Schläge bekamen. Wir durften nichts außer zur Schule und zum Konfirmandenunterricht. Durften nichts nach außen tragen. Sonst wären wir des Lebens nicht mehr sicher gewesen.

Irgendwann erzählte mir Katrin auch, was sie schon früh an sexueller Gewalt erlebt hat.

 

In meiner Kindheit bis weit hinein ins Jugendalter wurde ich ständig missbraucht. Meine Mutter sagte nichts, weil sie Angst hatte. Oftmals wurde sie in der Zeit eingesperrt. Manchmal gab mein Vater ihr was, dass sie schläft. Mein Vater sagte immer, so wird geliebt. Mein Bruder musste sogar mit mir schlafen. Auch andere Männer. Da kassierte mein Vater dann Geld ein von den anderen Männern.

 

Mich interessiert, ob Katrin mit ihrer Mutter darüber gesprochen hat.

 

Nein, habe ich nicht.

Kurz nach der Konfirmation war ich schwanger von meinem Vater oder Onkel. Da wurde mir der Fötus aus dem Leib getreten. Ich verlor den Fötus dann alleine auf der Toilette. Zum Arzt durfte ich nicht.

Meine Mutter tat nichts, weil die Angst größer war vor Schlägen.

 

Bis heute weiß Katrin nicht so richtig, was ihr geholfen hat, das durchzustehen.

 

Vielleicht, dass es irgendwann ja mal vorbei ist.

Und dann half mir der Glaube.

 

Als Konfirmationsspruch hat Katrin damals Psalm 23 gewählt.

 

Weil ich ihn einfach schön fand ... Er gab mir Zuversicht und Hoffnung. Früher nach der Konfirmation habe ich den Psalm oft innerlich gebetet, wenn mein Vater mich mal wieder missbraucht hatte. Heute bete ich ihn bei unangenehmen Eingriffen. Manchmal habe ich aber auch gezweifelt, brachte den Psalm nicht über meine Lippen. Hatte das Gefühl, Gott verlässt mich. Gelernt habe ich, dass Gott aber immer da ist, selbst wenn ich nur Dunkel um mich habe. Das gibt mir Ruhe. Das habe ich immer gespürt, wenn ich den Psalm im Gospelchor sang.

 

Als mir klar wurde, was damals mitten in meiner Pfarrgemeinde geschah, bin ich zutiefst erschrocken. Denn Kathrin war ein richtiges Gemeindekind. Sie kam nicht nur zum Konfirmationsunterricht; bald schon arbeitete sie in einer Kindergruppe mit, sie half beim Kindergottesdienst und auch im Quartierscafé.

 

Die Gemeinde war für mich ein Zufluchtsort. Da fühlte ich mich wohl und angenommen. Mir wurde etwas zugetraut. Ich fühlte mich einfach mehr zu Hause dort als bei meinen Eltern. Zu Hause war ich nur Ängsten ausgesetzt. Kam mir wie eingesperrt vor. In der Gemeinde fühlte ich mich frei. Da fand ich auch den Weg, mit Kindern zu arbeiten.

Ich merkte schnell, dass ich Kindern was geben kann, was ich zu Hause nie bekommen habe - zum Beispiel Geborgenheit. Nach einem Jahr entschied ich mich dann, ein Praktikum zu machen im Kindergarten und es macht mir riesigen Spaß. Danach begann ich den Beruf als Erzieherin.

 

Ich frage Katrin, woher sie die Kraft nahm, Geborgenheit zu geben?

 

Die Kinder haben mir die Kraft gegeben, auch Mitarbeiter, die mich gefordert haben. Aber ich merkte auch, dass mir der Glaube half. Mir wurde etwas zugetraut und öfters auch gesagt: „Du schaffst das, Du kannst das!“ Es war befreiend, anderen helfen zu können, dass diesen nicht das Gleiche passiert wie mir. Ich dachte aber auch: Wäre das anders gelaufen bei mir, wenn ich was gesagt hätte? Man war mir damals so nah in der Gemeinde. Trotzdem habe ich aus Angst nichts gesagt.

 

Warum hat bloß niemand etwas gemerkt?

 

Vielleicht weil sich keiner vorstellen konnte, das was nicht in Ordnung ist. Oder weil ich es so gut verbergen konnte.

 

Es ist (für mich) schwer zu verstehen: Katrin hat in der Gemeinde einen Schutzraum gefunden - und auch einen Kraftraum. Der Glaube hat ihr Kraft gegeben, sie hat ihre Gaben entdeckt, konnte sich weiterentwickeln. Und trotzdem blieb der Missbrauch verborgen. Ein Tabu – sie selbst hat nicht gewagt, darüber zu sprechen. Und wir, ich selbst – wir waren offenbar blind. Und währenddessen ging die Gewalt zu Hause weiter, bis sie mit 22 endlich auszog.

 

Er war mal nicht da und dann ging ich. Nahm nur das Nötigste mit.  Ich bin zum Sozialamt gegangen. Und während der Erzieherausbildung bekam ich noch Bafög dazu.

Ich brauchte Abstand. Meine Eltern wussten auch nicht, wo ich wohne. Irgendwann meine Mutter, aber nur kurz. Hatte sich von meinem Vater getrennt und zog nach Wismar. Später beging sie dann Suizid.

 

Das war der Moment, in dem Katrins Mutter Großmutter hätte werden sollen.

 

Genau. Und was macht sie? Ergreift die Flucht auf andere Art, indem sie sich umbringt. Fühlte mich zum zweiten Mal im Stich gelassen.

 

Denkst du, sie kam mit ihrer Schuld nicht klar?

 

Das denke ich.

 

Kannst Du ihr verzeihen?

 

Ja, mittlerweile. Nur meinem verstorbenen Vater kann ich nicht verzeihen. Manchmal kommt mir alles hoch. Auch wenn ich heute darüber schreibe.

 

Auch Katrins Bruder hat sich das Leben genommen. Katrins Vater hat fast die ganze Familie zerstört. Sie schreibt mir, was sie empfindet…

 

Abscheu.  Ich verabscheue ihn. Ich hasse ihn. Manchmal würde ich das am liebsten aus mir rausschreien. Aber es tut schon gut, einfach mit jemand darüber zu reden. Dann kann ich zur Ruhe kommen.

 

Die Auseinandersetzung mit dem Suizid von Mutter und Bruder war furchtbar. Ihr ganzes Glück, ihre Hoffnung und ihre Freude ist ihre Tochter, wir nennen sie hier Johanna.

 

Johanna interessiert sich fürs Tanzen. Sie malt gern und kann auch gut zeichnen. Sie verbringt gerne Zeit mit Freunden. Liest gern und ist sehr wissbegierig. Hilft bei der Kinderbibelwoche und auch bei Familiengottesdiensten.

Ich bin glücklich, dass es sie gibt. Bin stolz darauf, dass sie trotz meiner Krankheit so stark ist. Bin aber auch stolz, dass sie ihre Schwächen zeigt. Ich bin stolz darauf, dass sie ihre Schule so gut meistert.  Sie weiß, was sie will. Ich bin dankbar, dass Gott mir so ein wunderbares Kind geschenkt hat. Ich bin auch dankbar, dass für sie gut gesorgt wird und dass Menschen für sie da sind und sie liebhaben.

 

Und zur Konfirmation hat Katrin ihr ihr eigenes kleines Konfirmationskreuz geschenkt. Sie wollte ihr mitgeben:

 

Dass der Glaube was Schönes und Wertvolles ist. Dass der Glaube an Gott was Wunderbares ist.

 

Als Katrin anfing, über ihre Missbrauchserfahrungen zu sprechen, über Gewalt und Tod in der Familie, kam viel in Bewegung. Sie studierte Heilpädagogik und setzte sich mit dem Thema Behinderung auseinander. Ihr Vater, sagt sie, hat sie verachtet und auf allen Ebenen degradiert „Du bist nichts, du kannst nichts, Dir hört sowieso keiner zu“, war die Devise. Jetzt schloss sie ihr Studium ab und arbeitete als Inklusionslehrerin an der Schule. Und sie liebte die Arbeit; sie konnte zeigen, welches Potenzial in ihr steckt und sie blühte auf.

2017 wurde dann bei Katrin eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert.  Sie bekommt immer wieder schwere Entzündungen. Das Kortison dagegen verschlechtert ihre Osteoporose, das führt zu Knochenbrüchen.

 

Manchmal denke ich, was mir noch alles passiert. Wurde mir nicht schon genug angetan? Das Kortison ist für mich wichtig, um zu überleben, aber manchmal fühle ich mich einfach scheiße damit. Denke dann, was kommt noch alles.

Früher wurde mir wehgetan. Ich habe manchmal gedacht, dass mich das alles krank gemacht hat - und so sagen es auch die Ärzte. Mein Körper hat im Angst-Alarm alle Ressourcen verbraucht: Adrenalin, Serotonin, Kortisol ... Dann denke ich wieder: hätte ich mal was gesagt, dann wäre ich heute nicht so krank. Denke dann wieder, dass ich selbst schuld bin.

 

Manchmal scheint mir, Kathrins Krankheit ist die Fortsetzung der alten Geschichte. Ein Kampf mit ihrem Vater und mit den Schuldgefühlen, die er ihr eingeredet hat. Ich bitte sie, sich selbst zu verzeihen, dass sie aus Angst geschwiegen hat. Vielleicht auch uns, weil wir so blind waren. Und ich hoffe mit ihr, dass sie gut zu sich sein kann, trotz Krankheit. Mit der Krankheit.

 

Ja, das sollte ich. Und leben will ich, nicht nur überleben. Für meine Tochter und für mich. Und alle, die mich lieben.

 

Während Kathrin das ins Smartphone spricht, liegt sie seit sechs Monaten im Krankenhaus. Die Corona-Impfung hat sie nicht gut verkraftet. Entzündungen und Knochenbrüche haben zu Amputationen geführt. Das waren Situationen großer Ohnmacht. Retraumatisierungs-Erfahrungen. Sie war wie erstarrt, konnte kaum Entscheidungen treffen. Dass sie heute ihre Geschichte erzählen kann, das ist für Katrin zentral.

Manchmal denke ich wie Katrin: Hätte sie eher darüber sprechen können, wäre die Krankheit nicht so zerstörerisch geworden. „Es ist, als ob du mit einer offenen Wunde rumläufst, und keiner sieht es“, hat eine Betroffene gesagt. Aber die Gemeinde sollte doch ein Schutzraum sein, wo wir uns zeigen können, wie wir sind und wo alles zur Sprache kommen kann. Auch das Böse, das uns widerfahren ist. Warum war Missbrauch dann ein Tabu damals, vor 40 Jahren?  Bei wie vielen anderen habe ich nichts gesehen?

Seit einigen Jahren schauen wir endlich auf den Missbrauch, der in Institutionen passiert – in Schulen, in Sportvereinen und auch bei uns in den Kirchen haben Haupt- und Ehrenamtliche Kinder und Jugendliche missbraucht. Seit etwa fünfzehn Jahren verlangen wir Führungszeugnisse, schulen Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen und Ehrenamtliche, aufmerksam zu sein und die Dinge ins Gespräch zu bringen. Und versuchen Orte zu schaffen, wo Kinder und Jugendliche sich sicher fühlen können. Es geht um stabile, schützende Beziehungen - wenigstens die hat Katrin bei uns gefunden. Davon erzählen auch die Lieder, die sie für heute ausgesucht hat.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
1. Dionne Warwick, The Lord is my Shepherd

2. Aretha Franklin, Bridge Over Troubled Water

3. Lyles Dorrey, Lean on Me

 

 

 

 

 

30.09.2021
Cornelia Coenen-Marx