Wer sein Kind liebt, der züchtigt es?

Am Sonntagmorgen

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Wer sein Kind liebt, der züchtigt es?
Gewalt in der Geschichte diakonischer Hilfe
07.08.2022 - 08:35
10.06.2022
Cornelia Coenen-Marx
Über die Sendung:

Die Missionsschulen und Magdalenenheime sind geschlossen, an die Stelle der Fürsorgeheime sind Familien- und Wohngruppen getreten. Geblieben sind die Gräber, die verstörenden Akten - und die Erinnerungen. Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx fragt: "Wie konnte es passieren, dass man Jesus zur Leitfigur für tausendfachen Machtmissbrauch gemacht hat, zur „Rute“, mit der andere gedemütigt wurden?"

 
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Eine Pilgerreise der Buße, so nannte Papst Franziskus seine jüngste Reise nach Kanada. Mehr als 150.000 indigene Kinder zwischen 4 und 16 Jahren wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts in den 140 katholischen Internaten dort erzogen.

Sprecher 1:

Sie durften dort nur Englisch und Französisch sprechen, sollten ihre Muttersprache, ihre Spiele, ihre Geschichte vergessen und sich an die christliche Zivilisation anpassen. Von einem kulturellen Genozid ist inzwischen die Rede. Die Kinder wurden ihren Familien entrissen, Geschwister durften keinen Kontakt untereinander haben. Regelverstöße, erzählen die Überlebenden, wurden mit Schlägen und Stockhieben bestraft, die Kinder wurden eingesperrt und misshandelt. Viele, die versuchten zu fliehen, starben auf der Flucht oder durch Suizid. Was lange schon erzählt wurde, war nicht mehr zu leugnen, als letztes Jahr Hunderte anonymer Kindergräber in der Nähe der Internate gefunden wurden.

Noch sind nicht alle Gräber geöffnet, noch sind Akten unter Verschluss. Erst 1997 schloss das letzte dieser Internate. Aber so viel ist klar:  4000-6000 Kinder sind an Unterernährung, Vernachlässigung und Krankheiten gestorben. 30.000 wurden sexuell missbraucht. Es kam zu Abtreibungen, Säuglinge wurden ihren Müttern entrissen und getötet.

„Mit uns konnte man es ja machen“, sagt eine der Zeitzeuginnen. „Wir waren minderwertig. Menschen zweiter Klasse.“ Dass Katholiken zu einer Politik der Assimilation und Entrechtung beigetragen haben, das verletze ihn, sagte der Papst. Er bat die indigenen Völker um Vergebung für die Auslöschung ihrer Kultur durch den europäischen Kolonialismus. Und besonders für den Anteil, den die katholische Kirche daran hatte. Für das Böse, das so viele Christen indigenen Menschen angetan haben.

Mich erinnert das an die Geschichte der Magdalenenheime in Irland. Einrichtungen, in denen sogenannte „gefallene“ Mädchen aufgenommen wurden. Maria Magdalena, eine der Jüngerinnen Jesu, wurde lange mit der Frau identifiziert, die Jesus kurz vor seinem Tod die Füße salbt. Man(n) hat sie als Urbild der geläuterten Sünderin stilisiert.

In den Magdalenenheimen sollten Frauen auf den Weg der Besserung geführt werden - viele hatten sich prostituiert, um Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit zu entgehen. Auch Mütter mit unehelichen Kindern wurden aufgenommen, Schwangere, aber auch psychisch kranke Frauen. Manche suchten sogar selbst den Weg dorthin. Aber es ging hier nicht um Schutz und Zuflucht und schon gar nicht um ein besseres Leben – es ging um Macht, um Strafen für zugewiesene Schuld.

Sprecher 2:

Wenn eine Frau in eines der Heime kam, verlor sie ihre Identität, ihren Namen, ihre Rechte. Überlebende haben berichtet, wie eine Nonne ihnen an der Tür ihre Kleidung und alle privaten Dinge abnahm. Stattdessen erhielten sie eine Uniform und einen neuen Namen - oft mit religiöser Bedeutung. Die Vergangenheit sollte ausgelöscht werden - auch untereinander waren Gespräche darüber untersagt. Sie arbeiteten in der Küche und im Haushalt, vor allem aber in der Wäscherei - ohne Rücksicht auf Krankheiten oder Schwangerschaften. Kinder, die im Heim geboren wurden, wurden ihren Müttern spätestens mit dem ersten Geburtstag weggenommen, im Kinderheim erzogen oder zur Adoption freigegeben.

Schätzungsweise 60.000 Babys kamen über die Jahrzehnte in den irischen Magdalenenheimen zur Welt. Das Schicksal der meisten dieser Kinder ist nach wie vor unbekannt. Viele starben früh aufgrund von Mangelernährung, Vernachlässigung und Krankheiten. 2017 entdeckte man ein Massengrab auf dem Gelände eines Mutter-Kind-Heimes in der Grafschaft Galway. Dort fand man die Überreste von knapp 800 Babys und Kindern in ausgedienten Klärgruben und unterirdischen Kammern.

Erschreckend, wie sich die Geschichten gleichen. Wir sehen eine Orgie der Gewalt: psychische Gewalt, sexuelle Gewalt, strukturelle Gewalt.  Die Menschen, die in den Heimen und Internaten erzogen und betreut wurden, galten als minderwertig.  Mit ihnen konnte man es machen - wegen ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts oder der Gesellschaftsschicht, aus der sie kamen. Es ging um Anpassung an die christliche Mehrheitsgesellschaft - um jeden Preis. Es handelte sich auch nicht nur um die Übergriffe einzelner Priester oder Ordensleute, sondern um Strukturen von Macht und Menschenverachtung. Ganze Gruppen von Menschen werden ausgegrenzt. Weil sie anders waren. Weil sie zu anderen gemacht wurden. Es gibt inzwischen einen Begriff dafür: „Othering“ - Ver-Anderung.

Magdalenen-Heime gab es auch in Deutschland. Zum Beispiel in der Kaiserswerther Diakonie, wo ich selbst einige Jahre Vorständin war.

Sprecher 3:

Seit der Aufnahme der ersten strafentlassenen jungen Frauen 1833 galten Fürsorgearbeit und Heimerziehung als zentrales Arbeitsfeld. „Durch die Heimerziehung“, heißt es in der Hausordnung von 1940, „sollen die Mädchen einem arbeitsamen Leben zugeführt werden.“ Auch hier bekamen alle die gleiche Uniform, auch hier sollten sie über ihre Vergangenheit schweigen.

 

Wie schwer es den Schwestern fiel, mit ihren „Zöglingen“ klar zu kommen, ist in einem der Sonntagsbriefe zu lesen, die Schwestern ihren Mitschwestern schrieben: „Ich weiß nun, dass die Liebe nur dann bessert, wenn sie mir der nötigen Festigkeit gepaart ist und auch das Strafamt zu führen weiß. Macht es denn die Liebe Gottes etwa anders mit uns?“ Da hatte ihre Vorsteherin ihr gerade den Kopf gewaschen, weil sie enttäuscht war, dass zwei Jungs sie bestohlen hatten - zwei, denen sie Vertrauen entgegengebracht hatte, von denen sie eigentlich Dankbarkeit erwartete.

„Wer seinen Sohn liebt, den züchtigt er“, lese ich in der Bibel. Und in einem Kirchenlied heißt es sogar: „… des Vaters liebe Rut ist uns alle Wege gut.“ Die Strophe wird kaum noch gesungen, Gott sei Dank. Wer will sich Gott denn noch so vorstellen – als strafenden Vater, der uns mit Gewalt auf den rechten Weg bringt.

Sprecher 4:

In Kaiserswerth wurde der Versuch, wegzulaufen, drastisch bestraft. „Wenn die Mädchen weggelaufen waren“, erzählte Schwester Agnes, eine der alten Diakonissen, „dann kriegten sie Zimmerstrafe. Später war ja dann die Beruhigungszelle da.“ In diesem Arrestraum mit einer Eisentüre befand sich nur ein Stuhl, und nur abends wurde eine Liege dazugestellt. „Der erste Tag der Härte war Strafe durch Isolation. Dass sie darüber nachdenken. Der zweite Tag, da war Essensentzug, da bekamen die trockenes Brot und Muckefuck. Am dritten Tag dann wieder normale Mahlzeiten und Arbeit.“

Nicht nur im Kolonialismus, auch im Faschismus haben die Kirchen mitgemacht. Die Mädchen und Frauen in den Kaiserswerther Heimen wurden zwangssterilisiert. Und als Schwersterziehbare wurden sie nur noch „bewahrt“. So nannte man die bestrafende Sonderfürsorge für besonders widerspenstige junge Frauen. Die mussten dann im Krieg gut bewacht mit den Zwangsarbeitern auf den Feldern arbeiten. Als mir das erzählt wurde, wunderte es mich nicht: Zwangsarbeiterinnen waren sie ja schon immer – und immer schon die anderen, die fremden.

Vor etwa 20 Jahren, als ich in der Kaiserswerther Diakonie arbeitete, kamen gerade die Briefe von Mädchen und jungen Frauen, die eine Arbeitsbescheinigung forderten. Und kurz darauf entstanden offene Foren von ehemaligen Heimkindern aus der Nachkriegs-Diakonie, Anlaufstellen wurden geschaffen, Briefe mit Forderungen nach Entschädigung gingen ein.

Sprecher 5:

„Ihr habt uns als Kinder wie menschlichen Abfall in eure Fürsorgehölle entsorgt und uns zum Wirtschaftsobjekt gemacht und damit sicher weit  mehr verdient als 1 DM pro Monat und Kind“, hat jemand ins Forum der Bergischen Diakonie geschrieben. „Ihr habt systematisch unsere Menschenrechte verletzt, psychische und physische Körperverletzung sowie sexuellen Missbrauch an uns begangen! Ihr habt uns als Heimzöglinge auf die unterste Stufe der sozialen Leiter geworfen und uns die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung versagt!“

Es geht nicht nur um einzelne Christinnen und Christen. Es geht um das Selbstverständnis der Diakonie. Wie konnte es soweit kommen? - Auf meiner Spurensuche gehe ich an die Anfänge zurück - an die 200 Jahre. In den 30-er Jahren des 19. Jahrhunderts begann die Internatsarbeit in Kanada, kurz darauf die Arbeit der Fürsorgerinnen in Kaiserswerth und die der Magdalenen-Asyle in Irland - und in diese Zeit fiel auch die Gründung des Rauhen Hauses in Hamburg. Johann Hinrich Wichern, dem Gründer des Rauhen Hauses, ging es um die Freiheit der Jungen,  mit denen er arbeitete - aber er tat sich schwer mit Gemeinheit und Pöbelhaftigkeit, wie er sagte.

Sprecher 6:

Da prallten zwei Welten aufeinander: Einerseits der Vorsteher, seine Familie, die Diakone mit ihren bürgerlichen Wertehimmel – andererseits die Jungen und Mädchen aus Hamburgs Unterschichten. Wichern sprach von Verwahrlosung und Verwilderung.

Aber das Rauhe Haus sollte kein Zuchthaus und kein Gefängnis sein, kein Arbeitshaus und keine Armenschule. Wichern ging es um freie Liebestätigkeit. Die Brechung des widerständigen Willens durch äußere Zwangsmittel, durch Wegsperren, Strafen, militärische Disziplin – das war nicht seine Sache. Aber auch er setzte auf klare Regeln, Strukturen und Kontrollen. Liebe ohne „Zucht“ war für ihn nicht denkbar - so wenig wie Zucht ohne Liebe.

Wie er sich die Liebe vorstellte, zeigte sich im Aufnahmeritual. Wenn das neu aufgenommene Kind gebadet und eingekleidet war, sprach ihm der Vorsteher unter vier Augen das Vergebungswort zu: „Mein Kind, dir ist alles vergeben. Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist. Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel - nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier, du magst wollen oder nicht; du magst sie zerreißen, wenn du kannst; diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld.“ 

Im Rauhen Haus wurde keiner eingesperrt. Aber wie passt es zur Freiheit, dass die Liebe als Kette beschrieben wird? Was großzügig sein soll, kommt hier doch von oben herab.

Nein, ich muss noch weiter zurück - zu dem, mit dem wirklich alles anfing. Zu Jesus. Um seinetwillen bin ich noch immer in meiner Kirche unterwegs. Er sei von ganz oben gekommen, schreibt Paulus einmal, und sei sich doch nicht zu schade gewesen, ganz menschlich zu sein.  Ja, er hat sich ausdrücklich mit den Kleinsten und Verachteten identifiziert. Ich bin sicher, auch mit den Kindern aus den Internaten in Kanada und in Hamburg, mit den Mädchen aus den Magdalenenheimen – schließlich wurde er am Ende selbst als Fremder aus der Stadt getrieben, als Verbrecher gekreuzigt. Wie konnte es passieren, dass man Jesus zur Leitfigur für tausendfachen Machtmissbrauch gemacht hat, zur „Rute“, mit der andere gedemütigt wurden? Ich schäme mich für meine Kirche, meine Diakonie.

Die Missionsschulen und Magdalenenheime sind geschlossen, an die Stelle der Fürsorgeheime sind Familien- und Wohngruppen getreten. Geblieben sind die Gräber, die verstörenden Akten - und die Erinnerungen. Wer dabei war, kann ein Leben lang nicht vergessen, was geschehen ist. Das gilt nicht nur für die Opfer. Ich denke dabei an die Rosenschwester in Kaiserswerth - so nannte man die alte Diakonisse, die immer die hellblaue Sommertracht trug. Sie hatte in einem der Mädchenheime gearbeitet und war zutiefst verstört. Wenn sie nicht in therapeutischer Behandlung war, nähte sie kleine Puppen, schön wie die von Käthe Kruse. Und sie verschenkte Rosen an jeden, der ihr begegnete. Vielleicht war das ihre Art um Vergebung zu bitten, habe ich manch-
mal gedacht. Oder einfach zurück zu finden zur bedingungslosen Liebe?

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

Entnommen der CD: Jan Garbarek, Visible World

10.06.2022
Cornelia Coenen-Marx