Schönheit

Morgenandacht
Schönheit
12.03.2015 - 06:35
11.03.2015
Pfarrerin Annette Bassler

 

Es war auf der Entbindungsstation. Meine Tochter war gerade drei Tage alt, als mich eine Freundin besucht. „Na, wo ist sie? Darf ich sie sehen?“ fragt sie. „Na klar. Sie ist grad im Säuglingszimmer und wird dort frisch gewickelt. Geh einfach den Gang runter, dort ist sie.“ – „Und woran erkenne ich sie – unter den vielen Babys?“ Darauf ich, schneller als ich denken konnte: “Ganz einfach, sie ist die Schönste. Such das schönste Baby, das ist meins!“

 

Meine Freundin schüttete sich aus vor Lachen. Aber ich fand das gar nicht witzig. „Du zweifelst dran, dass mein Kind das Schönste ist? Kann man doch sehen – ganz objektiv.“

 

Es hat eine Weile gedauert, bis ich über mich schmunzeln konnte. Natürlich! Schönheit liegt ja immer im Auge des Betrachters. Objektiv kann man Schönheit gar nicht sehen. Man sieht immer mit seiner Brille – und wahrscheinlich ist die meine ziemlich rosa gefärbt, wenn ich auf mein Kind schaue.

 

Aber was macht eigentlich schön?

 

Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Wenn man eine besondere Beziehung zu jemand oder zu etwas hat, wenn man es liebt, dann ist das eben besonders schön.

 

Das muss nicht nur das eigene Kind sein. Es kann auch das Haus sein, das man gebaut hat, oder der Hund, den man verlaust aus dem Tierheim geholt hat, oder die Arbeit, die einem geradezu auf den Leib geschneidert ist.

 

Aber Schönheit liegt nicht nur im Auge des Betrachters. Schönheit kann man auch aus jemandem herauslieben. Ich glaube, dass Jesus das vorzüglich gekonnt hat. Das würde auch seinen großen Erfolg bei Frauen erklären.

 

Einmal trifft er auf eine Frau im Tempel, die steht ganz gekrümmt und in sich verbogen in der Ecke. Wahrscheinlich voller Komplexe und schamvoll mit Schleier verhüllt.

 

Jesus sieht sie und geht auf sie zu. Allein das ist schon sehr ungewöhnlich für einen Mann in der Antike. Fremde Frauen spricht man nicht an, schon gar nicht in der Öffentlichkeit.

 

Er nimmt sie bei der Hand, zieht sie hinter sich her in die Mitte des Tempels, so dass alle Umstehenden sie sehen können. Dann fasst er sie bei den Händen, sucht ihren Blick. Und als sich ihre Blicke gefunden haben, richtet er sie damit auf. Im wahrsten Sinn des Wortes.

 

Ich kann mir vorstellen, dass manche der umstehenden Frauen stellvertretend für sie vor Scham in den Boden versunken sind. Eine hässliche Frau im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit!

 

Aber das geht. Das geht dann, wenn die Frau im Blickkontakt bleibt mit dem, der sie schön findet und sehenswert. Und in dem Moment, in dem sie den liebenden Blick auf sich ruhen sieht, verwandelt sich auch ihr eigener Blick. Sie kann sich selber anders sehen – wie er.

 

An diese Geschichte muss ich denken, wenn ich Castingshows sehe, wo junge Mädchen und Männer sich mutig auf eine Bühne stellen. Sie hoffen, dass Andere ihre Schönheit sehen, die vielleicht noch ganz verborgen ist. Sie hoffen, dass jemand mit ihnen arbeitet und das Schöne aus ihnen heraus liebt.

 

Mit der Heilungsgeschichte der gekrümmten Frau will Jesus allen im Raum sagen: Es gibt keinen Menschen, der nicht schön ist vor Gott, aus dem Gott nicht dessen Schönheit herauslieben könnte. Man muss nur die ausgestreckte Hand ergreifen. Man muss nur Gottvertrauen haben und den liebenden Blick suchen.

 

Deshalb glaube ich: Christenmenschen sind die, die einen guten Blick für Schönheit haben. Die Schönheit auch dort suchen, wo sie nicht so offen zutage liegt. Und sie dann herauslieben.

 

Für mich als Mutter ist das ein Ding der Selbstverständlichkeit. Natürlich war meine Tochter die Schönste. Und sie ist es heute noch für mich – ganz objektiv.

11.03.2015
Pfarrerin Annette Bassler