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Du sollst deine Kinder achten und ehren!
02.06.2024 05:05

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Augenzwinkernd baten mich Eltern, doch unbedingt das vierte Gebot in meinem Konfirmandenunterricht zu behandeln. Sie hofften wohl, dass dieses „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ ihre Schützlinge wieder in die Spur bringen wird. Ein rührender Hilferuf an Kirche und Tradition in der harten Zeit der Pubertät. Dabei richtet sich das vierte Gebot eigentlich gar nicht an die Heranwachsenden. Adressat sind vielmehr die Eltern selbst, die den Großeltern Schutz und Fürsorge bieten sollen, damit es ihnen später im Alter auch einmal gut gehen wird.

Dem Sinn nach geht es um einen Gesellschaftsvertrag fortlaufender Achtung und Solidarität, der immer diejenigen im Blick hat, die des Schutzes besonders bedürfen, die Alten genauso wie auch die Kinder. Die Aufforderung, Bedürftige zu achten, dem Hilflosen beizustehen findet sich in unterschiedlichen Varianten in der gesamten Bibel. In der Geschichte der Christenheit wurde sie allerdings relativiert bis zur Unkenntlichkeit. So wurden Sklaverei, Verelendung, Militarismus und Machtmissbrauch unter dem Dach eines all dies rechtfertigenden Kirchenregiments möglich.

Es gibt ja tatsächlich auch Sätze in der Bibel, die man zwar lange suchen muss, bis man sie findet, die aber all diese Entgleisungen zu rechtfertigen scheinen. Zum Beispiel dieser eine unselige Satz aus den Sprüchen Salomos, der auch im Neuen Testament vorkommt: „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn liebhat, der züchtigt ihn beizeiten.“ (Sprüche 13, 24; Hebräer 12,7)

Ein Sprichwort aus alter Zeit, zitiert in einer ziemlich willkürlichen Spruchsammlung, aber mit einer enormen Wirkkraft. So konnten nach Glaubensorientierung suchende Menschen ihre Destruktivität ausleben und sich in göttlichem Fahrwasser wähnen, wenn sie ihre Kinder geschlagen haben. Selbst dort, wo das Christentum schon gar keine Rolle mehr spielt, wirkt diese Ermutigung zum Machtmissbrauch nach und rechtfertigt Gewalt in Familie und Gesellschaft.

Es gibt Geschichten, die möchte ich am liebsten aus der Bibel streichen. Auf die Geschichte, in der die Tochter des Feldherrn Jeftah anscheinend vorbildlich den Willen ihres Vaters erfüllt, kann ich nur mit Abscheu reagieren. Jeftah steht vor einer entscheidenden Schlacht gegen seine Feinde, die Ammoniter. Jeftah leistet einen Schwur und gelobt Gott:

Gibst du die Ammoniter in meine Hand, so soll, was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich von den Ammonitern heil zurückkomme, dem HERRN gehören, und ich will’s als Brandopfer darbringen.

Das scheint zu wirken. Jeftah ist erfolgreich und kehrt als Sieger nach Hause zurück.

Als nun Jeftah (..) zu seinem Hause kam, siehe, da geht seine Tochter heraus ihm entgegen mit Pauken im Reigen. Sie war sein einziges Kind, und er hatte sonst keinen Sohn und keine Tochter. Und als er sie sah, zerriss er seine Kleider und sprach:

Ach, meine Tochter, wie beugst du mich und betrübst mich! Denn ich habe meinen Mund aufgetan vor dem HERRN und kann’s nicht widerrufen.

Was die Tochter antwortet, lässt mir den Atem stocken.

Mein Vater, hast du deinen Mund aufgetan vor dem HERRN, so tu mit mir, wie dein Mund geredet hat.

Sie hat nur einen letzten Wunsch:

Du wollest mir das gewähren: Lass mir zwei Monate, dass ich hingehe auf die Berge und meine Jungfrauschaft beweine mit meinen Gespielinnen.

Jeftah gewährt ihr diesen Wunsch. Nach zwei Monaten kommt sie zu ihrem Vater zurück, und er tut mit ihr, was er Gott geschworen hat. Er tötet und opfert sie. Sie stirbt als Jungfrau, ohne dass sie der Vater freigegeben hätte, ohne dass sie sich das Recht genommen hätte, ihr eigenes Leben zu leben. (Richter 11,1-6+29-40)

Miriam war etwa zehn, als sie regelmäßig in der Kirche auftauchte, an der ich Pfarrer war. Nachdem sie Vertrauen geschöpft hatte, kam sie auf mich zu und empörte sich über Gott. Schon die Geschichte, in der Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte, gefiel ihr nicht, obwohl da im letzten Moment ein Engel Gottes eingreift und den Jungen rettet.

Als sie in der Bibel von Jeftah und seiner Tochter las, war sie schockiert. Das Entsetzen der kleinen Miriam war dreifach. Sie war wütend auf den Vater, der die Katastrophe auf den Weg gebracht hat, doch sie war genauso empört über die Tochter, die sich diesem Wahnsinn unterwarf, statt den Vater anzuschreien und wegzulaufen. Am meisten aber zürnte sie Gott: Wie konnte Gott dieses Menschenopfer überhaupt zulassen?

Die zehnjährige Miriam und ich haben uns die Geschichte noch einmal ganz genau angesehen und sind auf ein paar Merkwürdigkeiten gestoßen. Zum Beispiel, dass die Tochter von Jefta in der Geschichte keinen eigenen Namen hat. Und dass Gott selbst eigentlich gar nicht auftritt, das fiel uns auf. Jeftah macht Gott ein Versprechen, um das ihn niemand gebeten hat. Und er meint, es einhalten zu müssen, ohne dass Gott selbst es einfordert. Das macht die Geschichte nicht freundlicher. Aber es macht deutlich, dass es da mehr um das Ehrenwort eines Kriegsherrn geht als um die Geschichte Gottes mit den Menschen.

Vielleicht handelt es sich um eine typische Opfergeschichte, wie sie auch in kleinerer Form und außerhalb der Bibel immer wieder vorkommt. Eltern haben Träume, Ideen und große Pläne. Und irgendwann stellt sich heraus, dass sie dafür bereit waren, ihre eigenen Kinder zu opfern. Die Kinder spielen dann keine eigene Rolle. Sie sollen sich in das fügen, was die Eltern mit ihrem Leben vorhaben.

Trotzdem, ein Freispruch für Gott kam bei meinen Überlegungen nicht heraus. Es empörte mich, dass Gott diesmal keinen Engel geschickt hat, um ein Menschenopfer zu verhindern. Doch da widersprach mir die kleine Miriam. Sie vermutete, dass auch zu Jeftah ein Engel kam. Aber als Feldherr war der es einfach nicht gewohnt, auf andere zu hören, und so hat er den Engel Gottes einfach überhört.

Ich will versuchen, die Geschichte vom Feldherrn Jeftah, der seine Tochter opfert, noch einmal ganz anders zu lesen. Nehmen wir einmal an, in der ganzen Geschichte geht es ausschließlich um Jeftah, und die namenlose Tochter bleibt tatsächlich nur eine Randfigur. Die Bibel erzählt Jeftahs Vorgeschichte: Er ist ein uneheliches Kind, der Sohn einer Hure. Einen Bastard werden ihn seine Halbbrüder genannt haben. Mit gnadenloser Härte wird man ihm immer wieder klargemacht haben: Du gehörst nicht dazu. Er wird enterbt. Man wirft ihn aus dem Haus. Er muss sich durchschlagen. Es gibt kein familiäres Netz, das ihn trägt. Er wird zum Desperado, zum Kämpfer.

Er wird zu einem Mann, an den man sich erinnert, als man jemanden braucht, der zuschlagen kann. Nun sind alle Zwistigkeiten vergessen. Das Erbe, um das man ihn betrogen hat, steht plötzlich in Gefahr, von Feinden von außerhalb geraubt zu werden. Man macht sich gegenüber Jeftah klein, zeigt sich reumütig. Er kann den Preis nennen, wenn er nur kommt und bereit ist, den Feind zu schlagen.

Doch so einfach ist es auch für ihn nicht. Gerade wer zu kämpfen weiß, kennt auch die Risiken. Jeftah muss etwas einsetzen, um den mächtigen Feind schlagen zu können. Ein Tauschhandel mit Gott kommt ihm in den Sinn. Du, Gott, hilfst mir siegen, ich opfere dir etwas, das mir am Herzen liegt. Was mir aus meiner Haustür entgegengeht, wenn ich heil zurückkomme, soll dir gehören, und ich will’s als Brandopfer darbringen.

Er wird an seinen treuen Hund gedacht haben, den er da einsetzt. Das war es ihm wert, den Schmerz muss er ertragen, um zu gewinnen. Vielleicht kommt ihm auch ein Knecht entgegen. Auch das täte ihm weh. Aber es geht um einen Sieg für das ganze Volk. Der eine für die Vielen, eine bekannte Rechnung. So denken Könige, so denken Feldherren.

Aber es wird seine Tochter sein, die ihm entgegenkommt. Sein einziges Kind läuft glückstrahlend auf ihn zu. Und er ist wie vom Blitz getroffen. Diesen Fall hatte er nicht auf seiner Rechnung. Doch Schwur ist Schwur. Er wird sie opfern, und sie opfert sich für ihn.

Aus dieser Sicht geht es einzig um Jeftah selbst. Und dann ist die Tochter gar nicht die andere Person. Die jungfräulich reine Tochter verkörpert dann den Rest Unschuld, den Rest Menschlichkeit in Jeftah selbst. Für den Kriegsgewinn opfert er den letzten Anstand, der angesichts der vielen in der Jugend erfahrenen Schmähungen noch nicht in ihm zerstört wurde.

Er meinte, der Preis, den er zahlen muss, wird schmerzlich sein. Es stellt sich heraus: Sein Einsatz war grenzenlos. Unwissend hat er alles eingesetzt, und alles wurde ihm genommen.

Für die kleine Miriam war die Tochter des Jeftah das Opfer und ihr Vater war ein Verbrecher. Und Gott hat versagt, weil er nicht dazwischengegangen ist, vielleicht auch nur dadurch, dass er zu leise war für diesen rücksichtslosen Mann.

Doch für mich ist die Tätersuche damit noch nicht erledigt. Ich sehe in Jeftah zwar ebenfalls den Mörder, der seine Tochter hinschlachtet, um sein Wort zu halten. Doch ich sehe auch das Opfer in ihm. Das Opfer seiner Herkunft, das Opfer seiner Halbbrüder und seiner Stiefmutter, vielleicht auch das Opfer seines Vaters, der ihm nicht mit dem gleichen Respekt und der gleichen Liebe begegnet ist wie seinen anderen Söhnen, weil er Jeftah mit einer Prostituierten gezeugt hat. Jeftah ist ohne Liebe aufgewachsen, wenn man der biblischen Erzählung folgt.

Er wurde ein „streitbarer Mann“, so steht da. Er hat gelernt, sein Herz hart zu machen, um zu überleben. Er hat zu kämpfen gelernt und zu misstrauen.

Man fragt sich, wie Jeftah darauf eingehen konnte, für diese Familie in die Schlacht zu ziehen, die ihn doch so schmählich im Stich gelassen hat. Man wird wohl antworten müssen: weil er von den Menschen nichts anderes erwartet hat. Ja, so hat er die Menschen kennengelernt: lieblos und eigennützig. Man baut nicht auf Solidarität und Vertrauen, man schließt einen Deal. Und an den hält man sich. Emotionen haben in diesem geschändeten Leben keinen Platz. Wo man sie nicht gänzlich negiert, da verdrängt man sie.

Genau so hat es Jeftah mit seinem Schwur vor Gott gehalten. Sein Wort als Feldherr gilt. Darauf können sich seine Leute verlassen, darauf kann sich Gott verlassen. Mit Gefühlsduseleien lassen sich Kriege nicht gewinnen. Dass die Liebe anderen Gesetzen folgt, hat Jeftah nicht erfahren dürfen. Das Trauma seiner Kindheit hat er nicht überwinden können. Auch im Mörder erkenne ich das verletzte Kind.

Ich denke an die aktuellen Opfer von körperlichem und seelischem Missbrauch, deren Empörung auch darin mündet, dass etwas zerstört wurde, das es ihnen schwermacht, Vertrauen aufzubauen, liebesfähig zu werden.

Und selbst bei den Tätern kann ich nicht anders als zu fragen, ob nicht auch sie eine Opfergeschichte mit sich tragen. Das rechtfertigt keine ihrer Taten. Andere haben Ähnliches oder Schlimmeres in ihrer Kindheit erlebt und sind trotzdem nicht zu Tätern geworden. Aber diese Seite auch zu sehen, bewahrt davor, die Täter zu entmenschlichen.

Ich denke an die Kriegstreiber der Geschichte und der Gegenwart und ich frage nach deren Kindheit. Was mag einen Hitler, einen Stalin, einen Mao Tse-tung zu dieser Entmenschlichung ihres Handelns getrieben haben?

Ich denke auch an das, was mir über die Kindheit von Wladimir Putin bekannt ist. Aufgewachsen ist er im von der Wehrmacht zerstörten Leningrad. In einer Zeit, die geprägt war noch immer durch den stalinistischen Terror.

So glaube ich auch, dass niemand der Persönlichkeit von Donald Trump auch nur ansatzweise gerecht werden kann, der in ihm nur den rücksichtslosen Krawallmacher sieht und nicht auch das verletzte Kind in ihm zu entdecken vermag. Seine Nichte Mary Trump hat beschrieben, wie er geprägt wurde durch seinen tyrannischen Vater.

Einzelne Personen aus der Ferne zu pathologisieren, ist fragwürdig. Aber wenn ich auf mich selbst schaue, so sehe ich, dass es in der Kindheit Verhältnisse gibt, die das Selbstwertgefühl und das Grundvertrauen ins Leben und in die Mitmenschen stärken, und Situationen, die daran zweifeln lassen, ob man auf festem Grund steht. Ich bin dankbar, dass es mir möglich wurde zu vertrauen. Nicht bedingungslos und auch nicht blind, aber selbst bei Enttäuschungen immer wieder neu.

Meine Arbeit in Berlin-Kreuzberg mit Obdachlosen und Drogenabhängigen wäre mir anders auch gar nicht möglich gewesen. Ich habe lernen müssen auch denen, von denen es hieß, dass man ihnen niemals trauen kann, weil sie doch so oft schon gelogen und betrogen haben, zwar mit der gebotenen Vorsicht, aber doch mit Offenheit und Wertschätzung zu begegnen.

Wie wäre es wohl gewesen, wenn jemand auf Jeftah zugegangen wäre und hätte ihm Mut gemacht, seinem Feldherrndenken die Vaterliebe entgegenzusetzen, wenn jemand ihm gesagt hätte, Gott denkt nicht wie ein Feldherr, Gott denkt wie ein Vater.

Und was hätte Jeftahs Tochter gebraucht, um sich dem Wahn ihres Vaters zu widersetzen? Ich denke, ein gesunder Gotteszweifel hätte ihr durchaus geholfen zu widerstehen. Ein Gott, der so ein Opfer annimmt, dem muss man sich verweigern.

Und wo eigentlich war die Mutter in der Geschichte, so fragt man sich, ein Onkel oder ein Offizier, der dem Feldherrn entgegentritt und ihm die Lunte aus der Hand schlägt? Missbrauch geschieht, weil sich das Umfeld wegduckt und schweigt, nicht hinschaut und nicht wissen will.

Das Schicksal der verletzten Kinder lastet auf deren Seele. Und es wirkt zurück auf unsere Gesellschaft. Es gefährdet den inneren und äußeren Frieden. Die Verbrecher von heute sind die verletzten Kinder von gestern.

Insofern sind der Schutz und die Förderung von Kindern aus meiner Sicht eine Hauptaufgabe der Politik. Und dabei verstehe ich den Schutz nicht nur so, dass man das Böse von ihnen fernhält, indem man die Überwachung und Kontrolle erweitert. Man muss vielmehr die Voraussetzung stärken, unter der ihr Vertrauen in die Welt und die Mitmenschen wachsen kann.

Dafür gibt es materielle und kulturelle Voraussetzungen. Dafür muss es gute Räume der Begegnung geben. Lehrerinnen und Erzieher, die von der Gesellschaft geachtet werden.

Weniger Druck und mehr Ermutigung für unsere Kinder. Die vielen Anläufe, die Kinderrechte ins Grundgesetz einzutragen, sollten endlich aus dem Stadium des „eigentlich müsste man“ herauskommen und zur Abstimmung gelangen.

Und auch in den Kirchen gilt es nachzuarbeiten, damit sie geschützte Räume für Kinder und Jugendliche sind und werden. Für den Konfirmandenunterricht wünsche ich mir eine gemeinsame Stunde mit den Eltern, in denen diese Ergänzung des vierten Gebotes offen diskutiert wird: „Achtet und schützt eure Alten und eure Kinder, auf dass es euch wohlergehe und ihr lange und gut lebet auf Erden.“

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

    1. Igor Strawinsky, Le Sacre du Printemps
    2. Julianna Barwick, Labyrinthine (Album Nepenthe)
    3. Maneskin, Beggin’
    4. Benjamin Britten, War Requiem
    5. Karl Jenkins, Lament for the Valley