Solidarität gegen Neid

Junge Frau mit Weltkugel auf dem Schoß schaut betrübt

Gemeinfrei via unsplash/ United Nations

Solidarität gegen Neid
19.02.2021 - 06:35
18.02.2021
Annette Bassler
Über die Sendung

Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Sendung zum Nachlesen:

„Das ist nicht gerecht, die kriegen mehr!“ Die Arbeiter haben den ganzen Tag geschuftet und jetzt das. Obwohl sie viel mehr geleistet haben als die anderen, die später gekommen sind, kriegen sie den gleichen Lohn. Genug zum Überleben für den einen Tag. Das ist ungerecht, sagen sie. Aber der Chef bleibt dabei. Fragt zurück: Seid ihr neidisch, weil ich großzügig bin?

Das biblische Gleichnis bürstet gewaltig gegen den Strich. Gott, der Chef im Gleichnis, versteht unter Gerechtigkeit etwas anderes als die Arbeiter. Seine aufreizend gleichmacherische Großzügigkeit ärgert die Leistungsstarken. Zugleich hält sie ihnen einen Spiegel vor: Geht es euch wirklich um Gerechtigkeit? Oder seid ihr einfach nur neidisch?

Jetzt geht es endlich los mit dem Impfen. Und weil es wenig Impfstoff an viele zu verteilen gibt, auch hier empören und drängeln sich manche vor und fragen: ist das gerecht? Sollten wir nicht zuerst drankommen?

Zum Beispiel bei Großmüttern wie mir, die sich um die Enkel kümmern und die Kinder entlasten könnten. Ich wollte es wissen und habe deswegen bei meiner zuständigen Hotline angerufen. „Sie sind heute schon die zweite Großmutter, die mich mit diesem Wunsch anruft,“ lacht eine junge Frau am anderen Ende der Leitung. Aber ich müsse warten, sei erst in der dritten Gruppe dran, aber immerhin würde sie meine Anfrage mal weiterleiten.

Nicht nur Großeltern, auch Bürgermeister, Polizistinnen und Lehrer könnten ihrer Arbeit mit weniger Stress und Angst nachkommen, wären sie geimpft.

Ich kann das „Impfgerangel“ gut verstehen. Aber auch die Empörung derer, die geduldig warten, bis sie dran sind. Wie jene Frau, die uns von ihrer großen Sorge geschrieben hat, dass bei uns der Egoismus grassieren könnte und der Wunsch nach Impfprivilegien.

Das Gleichnis der Bibel hält uns einen Spiegel vor: Geht es wirklich um Gerechtigkeit? Oder ist das schlicht der Neid auf die, die zuerst dran sind? Wie halten wir es mit der Großzügigkeit, von der wir nicht profitieren?

Wer bei uns zuerst geimpft wird hat die ständige Impfkommission erarbeitet. Deren Empfehlung hat die Regierung übernommen. Mir nötigt großen Respekt ab, wer hinter dieser Empfehlung steckt. Viele namhafte Wissenschaftlerinnen aus allen Fachrichtungen. 26 Experten des nationalen Ethikrates. Jedes Wort ihrer Empfehlung haben sie lange fächerübergreifend reflektiert und diskutiert.

Sie hätten empfehlen können, das überall in unseren Kaufhäusern geimpft wird, wie in Amerika. Nach dem Motto: wer zuerst kommt, malt zuerst. Man hätte die politischen und wirtschaftlichen Führungskräfte zuerst impfen können. Oder man hätte Menschen bevorzugen können, in deren Region ein Impfstoff entwickelt wurde. Dann wäre ich als Mainzerin zuerst dran, Biontech ist bei mir gleich um die Ecke.

Der Nationale Ethikrat und die Impfkommission aber beharren darauf: Impfen greift ein in ein Persönlichkeitsrecht des Einzelnen. Und jeder einzelne ist bei uns vor dem Gesetz gleich. Deshalb zählt bei uns allein die Frage: wer braucht eine Impfung am dringendsten, um im Fall einer Infektion überleben zu können? Und hier spielt das Alter die entscheidende Rolle.

Ich finde, die Empfehlung der Impfkommission und die Haltung dahinter kommt dem Gleichnis sehr nah. Denn hier bekommen alle, was sie zum Überleben brauchen. Das ist vor Gott gerecht, so das Gleichnis.

Deshalb darf es aus christlicher Sicht keinen Impfnationalismus geben. Der UN-Generalsekretär Antonio Guterres und die Präsidentin der Welthandelsorganisation, Okonjo-Iweala, sie fordern einen globalen Impfplan. Denn derzeit haben nur zehn Länder 75% aller Covidimpfungen gemacht, in 130 Ländern gibt es keine Impfstoffe. Breitet sich die Pandemie dort ungehindert aus, werden unsere Impfstoffe gegen die sich entwickelnden Mutanten nicht wirksam sein. Solidarität ist deshalb nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit, sondern ein Gebot der Vernunft.

Oder empört Sie solche Solidarität? Dann lassen Sie uns darüber streiten. Diskutieren Sie mit auf Facebook unter „Evangelisch im Deutschlandradio“.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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18.02.2021
Annette Bassler